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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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gleich gestellt, mein Junge? Geh zum Fenster, und sag mir, was du siehst.» Ich tat, was sie wünschte.
    «Ich sehe gar nichts.»
    «Man sieht immer etwas», erwiderte sie.
    «Ein Feld, viele Krähen, sonst rührt sich gar nichts.» Ich stellte mich dumm, denn solche Art von Spannung mochte sie.
    «Fehlt da nicht etwas?», wollte sie wissen. Ich wartete kurz ab, bis sie ihre Frage wiederholte.
    «Vielleicht ein Mensch?», antwortete ich.
    «Wichtiger als der Mensch, mein Herz.»
    «Wichtiger als der Mensch? Der Regen vielleicht?»
    «Fast so wichtig wie der Regen.»
    «Was könnte das sein?», fragte ich, als ob ich es nicht schon wüsste.
    «Der Wind fehlt. Keine einzige Windböe, seit Tagen schon. Der Wind sammelt seine Kraft für die schweren Herbststürme. Er wird alles verwüsten, was er antrifft.»
    «Steckt in solch einem Wind auch ein Teufel?», fragte ich sie, obwohl ich die Antwort längst kannte.
    «In jeder Art von Wind kann einer stecken, nicht nur in den Herbststürmen. Vor den Teufeln sind wir zu keiner Jahreszeit sicher. Aber die Winde sind auch nützlich. Ohne sie könnten sich die toten Seelen gar nicht zumHimmel erheben. Als Gott den Menschensamen über die Erde streuen wollte, half ihm der Wind aus, sonst würden Menschen nur hier bei uns wachsen.»
    «War der Wind vor Gott da?»
    «Nichts ist vor Gott da gewesen, mein Herz. Aber jedes Mal, wenn er etwas Neues geschaffen hat, dich, mich, die Zigeuner, die Schwaben …»
    Ich unterbrach sie: «Auch den Bulibaşa?»
    «Auch ihn, den Sündigen. Jedes Mal also ist Gott ein bisschen müder geworden, und seine Kraft hat abgenommen. Nur so kann ich mir vorstellen, dass er heutzutage so schwach geworden ist.»
    «Und was hat der Wind mit meiner Geburt zu tun?»
    «Hab Geduld, Jacob, du darfst einer Geschichte nicht vorgreifen, sie braucht ihre Zeit. Natürlich hat der Wind etwas mit deiner Geburt zu tun, denn es gibt nicht nur die alten Herbstwinde, sondern auch die jungen Winde des Frühlings. Man sagt, dass sie manchmal launisch und wild sind, ja sogar grausam. Schwangere fürchten sie, denn sie stehlen ihnen die Frucht ihres Leibes. Sie bleiben mit leerem Bauch zurück, als ob sie nie ein Kind darin gehabt hätten. Aber manchmal, sehr selten muss man sagen, schwängert der Wind auch eine Frau. Die Samen des Mannes treiben nackt und blind umher, bis der Wind sie in die richtige Richtung lenkt.»
    «Meinst du den Samen von Vater?»
    «Wer redet da von deinem Vater? Ein so böser Mann kann unmöglich dein Vater sein, Jacob. Mit ihm hast du nichts gemeinsam. Daran musst du glauben. Es war der Samen eines anderen, viel besseren Mannes. Der Wind hat ihn zu deiner schlafenden Mutter getragen. Es könnte sogar einer aus China gewesen sein.»
    «Ich sehe aber gar nicht aus wie ein Chinese.» Sie zuckte mit den Achseln, als ob meine Frage alles andere als intelligent wäre.
    «Woher weißt du das alles?», fragte ich weiter.
    «Wir Zigeuner wissen Dinge, die anderen verborgen bleiben. Und wir schreiben unsere Geschichten nie auf, damit wir sie besser im Gedächtnis behalten.» An dieser Stelle verstummte Ramina immer, sie schloss die Augen und seufzte so laut, als ob es ihr letzter Atemzug gewesen wäre. Ich sah auf ihre geschwollenen Füße, um die Ungeziefer herumkroch. Die Fliegen setzten sich auf ihr ruhiges Gesicht, liefen auf ihren Lippen und Wangen herum, doch sie vertrieb sie nicht. Sie saß da wie ein vor Anstrengung ermüdeter Riese.
    Doch jedes Mal, wenn ich meinte, sie wäre eingeschlafen, und erneut meinen Abgang plante, sogar schon aufgestanden war, hörte ich sie sagen: «Du hast gar nicht die zweite Frage gestellt.»
    Ich ließ mich zurück aufs Sofa fallen. «Aber auch wenn das alles stimmt, was ändert das daran, dass ich auf einem Misthaufen geboren wurde?»
    Jetzt richtete sie sich auf und blickte mich empört an. «Jacob, du darfst nie daran zweifeln, wie du geboren wurdest. Diese Geschichte erzähle ich dir gerne, wenn du mir nächste Woche pünktlich das Essen bringst.» Das was ihr Trick, um mich bei Laune zu halten und mich dazu zu bringen wiederzukommen. Denn in ihrem baufälligen Haus, wo die Stille nur durch das Hämmern und Schleifen des Sohnes unterbrochen wurde, waren meine Besuche das Einzige, woran man das Verstreichen der Zeit messen konnte.
    Sie schmückte ihre Erzählungen – die für mich keineErzählungen, sondern die Wahrheit waren – jedes Mal neu aus. Sie wusste, was sie mir, ihrem einzigen Publikum, schuldig war. Ich

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