Jacob beschließt zu lieben - Roman
wenig beiseitehob, lauschte und meinte, die Gefahr sei vorbei, geschah etwas, das meine Hoffnung zerschlug. Ich hörte Gewehrsalven, Motorenheulten auf, Menschen schrien, und irgendeiner rief etwas auf Russisch. Dann fing das Warten von Neuem an.
Ich hatte die Jacke enger gerafft und Großvaters Mütze tiefer ins Gesicht gezogen. Mit klammen Fingern hatte ich meine letzte Kerze angezündet, aber sie gab kaum Wärme ab. Ich hatte auch alles gegessen, was Mutter mir mitgegeben hatte.
Um mich herum lagen die Toten. Ich versuchte an ihre Geschichten zu denken, um mich abzulenken. Es gab die alten Toten, die schon zu Zeiten von Frederick Obertin gestorben waren, an Cholera, Hunger und an den Überschwemmungen. Deutsche und französische Lothringer, Elsässer, Luxemburger, Pfälzer, Badener, später auch Rumänen und Ungarn. Völlig den Launen der Natur ausgeliefert und ohne Unterstützung der Provinzregierung in Temeschwar, wurden sie zu Dutzenden hinweggerafft.
Es gab auch mittelalte Tote, die einfach Pech gehabt hatten, so wie Stoffles Frau, die 1890 von einem Pferdewagen überfahren worden war. Eine echte Leistung bei einer Dichte von wenigen Wagen pro Stunde auf der Hauptgasse. Es gab auch Leute, die auf der Durchreise gewesen und hier verstorben waren.
Der Kraftkünstler Fischer war einst an der Dorfgrenze erschienen, hatte Großvater erzählt, mit nichts anderem im Gepäck als einigen armdicken Eisenketten, die er in einem kleinen Karren hinter sich herschleppte. Auf seinem Weg durchs Dorf liefen die Bauern auf die Gasse, um ihn zu bestaunen, denn er war nackt. Manche sagten, am ganzen Körper, aber wahrscheinlicher ist, dass er nur den Oberkörper entblößt hatte. Die beste Werbung für sein Vorhaben.
Vor Seppls Wirtshaus – sie hießen alle Seppl, unsere Wirte, sie waren alle Erstgeborene – machte er halt. Aus seinen Hosentaschen holte er eine Handvoll Münzen und warf sie in den Gastraum. Zuerst geschah gar nichts, dann hörte er, wie sich die Säufer darum stritten. Einer nach dem anderen kamen sie heraus, um die Quelle ihres Glücks in Augenschein zu nehmen. Fischer versprach ihnen mehr, wenn sie von Haus zu Haus gehen würden, um anzukündigen, dass er, der Kraftkünstler Fischer, am nächsten Tag vor dem ganzen Dorf beweisen würde, wozu ein Mensch fähig sei. Die Bauern sollten einige Münzen mitnehmen, seine Kunst sei nicht gratis.
Danach suchte er nach jemandem, der ihm sechs Pferde leihen würde, und stieß auf Großvater, der damals erst zwanzig Jahre alt war. Als er und Großvater am nächsten Tag eintrafen, hatte sich bereits viel Volk versammelt. Auch Leute aus den umliegenden Dörfern waren da, denn es hatte sich schnell herumgesprochen, dass es in Triebswetter etwas zu bestaunen gab.
Sie waren zu Fuß, mit ihren Karren oder auf ihren Pferden gekommen und hatten draußen vor dem Dorf einen weiten Kreis gebildet. Als Fischer und Großvater auftauchten und Großvater damit begann, die Ketten an den Pferden anzubringen – eine für jedes Tier –, reckten sie die Köpfe, um besser sehen zu können. Als Fischer eine Ansprache hielt, wurden sie ganz still.
«Ich bin der Kraftkünstler Fischer. Früher habe ich beim Zirkus gearbeitet, jetzt bin ich selbstständig. Ich habe übermenschliche Kräfte, Gott hat mich damit gesegnet. Ich kann Lokomotiven schieben und Karren mit zehn Mühlsteinen heben. Heute werde ich diese Pferde nur mit der Kraft meiner Muskeln halten. Doch auch Kraftkünstlermüssen essen. Wenn Sie also so nett wären, ein paar Münzen in diesen Topf zu werfen, wäre ich überaus dankbar.»
Er stellte den Topf ins Gras, und die Zuschauer traten vor und warfen ihre Münzen hinein. Dann half Großvater ihm, sich selbst anzuketten. Die längste Kette wickelte sich Fischer um den Hals, die drei kurzen auf jeder Seite um seine Arme. «Wenn ich nicht stark genug bin, brechen sie mir das Genick», kündigte er an. Das taten die Pferde dann auch.
Auch für ihn wurde die große Glocke geläutet. Bei seinem Begräbnis zog der Vorgänger von Pfarrer Schulz so fest an dem Glockenseil, dass es ihn in die Luft hob. Es erklang ein schöner, klarer Ton, da waren kein Riss und keine Unebenheit im bronzenen Guss. Der Pfarrer liebte es, im Klang, von dem der Raum erfüllt war, zu schweben. Noch viele Jahre danach würde er die Menschen erschrecken, weil er die Glocke schlug, nur um sie zu hören.
Mechanisch und routiniert ging ich die Liste unserer Toten durch, wie einer, der sich damit bestens
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