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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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auskannte. Jedes Mal, wenn Vater zu Hause den Gurt ausgezogen hatte, hatten sie mich anschließend geduldig empfangen. Jetzt mussten sie noch geduldiger sein, da doch durch die Russen nicht nur die Ruhe der Lebenden, sondern auch ihre eigene gestört wurde.
    Ich dachte auch an die neueren Toten, jene, die seit meiner Geburt gestorben waren. Wie Ernst Renard, Vaters erster Verwalter, der an der Tollwut erkrankt war und sich lange gequält hatte, ohne dass ihm Nepers Medikamente hatten helfen können. Oder an Dampfmühlendirektor Ludwig, den Vater aus dem Geschäft gedrängt und der sich am 1. Februar 1934 erschossen hatte.
    Aber am längsten blieb ich bei einem Namen hängen: Katica. Die letzte, frischeste Tote auf unserem Friedhof. Wann hatte ich sie nach jener peinlichen, ersten Begegnung auf dem Feld wiedergesehen?
    Kurze Zeit nach Kriegsausbruch wurde die Versammlung der Männer einberufen. Der Trommler zog langsam durchs Dorf, blieb alle Hundert Meter stehen und verkündete: «Hört, Bauern, hört. Der Krieg ist ausgebrochen. Noch ist bei uns nicht viel passiert, aber das kann sich schnell ändern. Der Bürgermeister hat für morgen nach der Feldarbeit die Versammlung aller schwäbischen Männer einberufen. Das Erscheinen ist obligatorisch. Fehlen dürfen nur die, die krank sind und deren Tiere werfen müssen.»
    Am nächsten Tag zogen Vater und Großvater die Festtagskleider an, denn es war undenkbar, anders als so gekleidet zu erscheinen. Mutter hatte die Stiefel frisch gewichst und die Hemden gewaschen und gestärkt. Sie zupfte die Fussel von den Mänteln, dann spannte sie das prächtigste Pferd vor die Kutsche. Als sie fort waren, wandte sie sich an mich, fuhr mir mit der Hand durch das Haar und sagte:
    «Hast du an Ramina gedacht? Mach dich bald auf den Weg, sie wartet bestimmt schon auf dich. Und vergiss das Huhn nicht.»
    «Mutter, wieso füttern wir eigentlich Ramina durch?»
    «Willst du, dass wir es nicht mehr tun?», fragte sie zurück.
    «Im Gegenteil! Es soll immer so sein. Ich möchte Ramina, bis ich alt bin, jeden Freitag ein Huhn bringen.» Mutter ging in die Küche, um den Sack zu füllen, und ich folgte ihr.
    «Was willst du noch?»
    «Wie bin ich wirklich geboren worden?»
    Sie gab keine Antwort, stellte den Sack vor die Tür und begann, Gemüse zu rösten. Sie vergaß mich für eine Weile, und als sie wieder den Kopf hob und mich erblickte, fragte sie: «Was ist heute los mit dir?» Dann setzte sie ihre Tätigkeit fort.
    «Ist Vater wirklich mein Vater?» Sie schaute nicht auf, sie unterbrach ihre Arbeit nicht, sie tat sie nur mit mehr Nachdruck. Ansonsten verriet nichts an ihr, dass sie von mir überrascht worden wäre. Im selben Ton, vielleicht ein wenig gepresster, antwortete sie:
    «Er ist dein Vater, so sehr, wie er mein Mann ist.»
    «Kann man das ändern?»
    Darauf folgte nichts mehr.
    Vor dem Gemeindehaus, wo Kutschen, Karren und Pferde die Gasse verstopften, legte ich meine Last ab und setzte mich ans Fenster, um auszuruhen. Das Huhn versuchte auszureißen, wie alle anderen vor ihm, aber ich legte mein Bein auf den Sack, der sich bewegte, als spukte darin ein Geist umher. Ich konnte das Stimmengewirr im Gemeindehaus gut hören und erkannte sogar manche davon. Den Rosshändler Materni, einen bärtigen, listigen Mann, der nach uns aber der reichste Bauer im Dorf war. Seppl, den Wirt, der in siebter Generation die Kneipe führte und genauso hieß wie alle anderen sechs vor ihm. Den Franzosen-Dimansch, der unser Bürgermeister war, dessen Vorfahren aus Metz gekommen waren. Natürlich auch Vater und Großvater.
    Der Bürgermeister musste sie mehrmals zur Ruhe auffordern, bis der Lärm allmählich abebbte, die letzten Stühle gerückt wurden und schließlich gespannte Aufmerksamkeitherrschte. Dann räusperte er sich, bevor er mit seiner Ansprache begann:
    «Brüder, wie ihr wisst, herrscht Krieg. Polen hat Deutschland so lange provoziert, bis man gar keine andere Wahl hatte, als sich zu verteidigen. Was das für uns bedeutet, weiß ich noch nicht. Wir leben seit 170 Jahren hier, ohne uns wäre dieses Land nicht das, was es ist. Wir haben hier Sümpfe und Morast vorgefunden, ein unwirtliches, menschenleeres Land. Die wenigen Rumänen, die vor uns hier waren, hätten niemals geschafft, was uns gelungen ist. In kurzer Zeit sind wir eine der reichsten Provinzen der Monarchie geworden. Nicht die Rumänen oder die Ungarn haben das geschafft, sondern die Schwaben. Wäre es nach denen gegangen,

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