Jacob beschließt zu lieben - Roman
besitzen als je zuvor. Jedenfalls sehr viel mehr als irgendeiner aus einem gottverlassenen Nest wie Frédérics Dorf, dessen Name der Mann gar nicht wusste. Jeder war willkommen, Handwerker, ehemaliger Soldat, Bauer, Hauptsache, er war katholisch.
Frédéric hörte zum ersten Mal auch etwas über einen Fluss namens Donau, da doch die mickrige Salia das einzige Flüsschen war, das er zeitlebens gekannt hatte. Die Donau, erzählte ihm der Dicke, während er ein Glas sauere Milch trank und den letzten harten Brotkanten Frédérics aß, sei ein mächtiger Strom, an manchen Stellen so breit wie der Abstand von seinem Hof bis zur Straße, an anderen jedoch eng und gefährlich.
Auf ihm würden die Menschen, die sich in einer Stadt namens Ulm sammelten, bis in jene vielversprechende Krondomäne reisen, die man Banat nannte. Mit ein wenig Glück dauerte die Fahrt auf dem Floß zwei Wochen, allerhöchstens vier. So ein weiter Weg sei nicht ohne Risiken, aber lohnenswert, wenn man daran dachte, was einen am Ende erwartete. In Lothringen sei doch schon lange kein anständiges Leben mehr möglich. Deshalb müsse auch er aufpassen, wenn er auf den Dorfplätzen erscheine, denn der Zulauf der Leute sei groß, die französischen Beamten allerdings unzufrieden über den Aderlass.
«Wie oft hat der König in letzter Zeit die Steuern erhöht?», fragte der Mann mit erhobenem Finger, der seinen ganzen Auftritt noch theatralischer machte.
«Oft», antwortete Frédéric nachdenklich.
«Und wie oft hat es Missernten gegeben?»
«Noch öfter.»
«Na also, zwei Gründe, um sein Glück anderswo zu suchen», beendete der Mann sein Plädoyer und legte sich auf Frédérics Bett flach auf den Rücken, bald aber kippte sein unförmiger Körper zur Seite. «Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn ich heute Nacht in Ihrem Bett schlafe. Meine Knochen schmerzen gar schlimm.»
Frédéric hätte sich womöglich widersetzt, er hätte den unverschämten Kerl hinausgeworfen, wenn er nicht von dessen Erzählung beeindruckt gewesen wäre. Ihm wurde schwindlig bei den vielen Gedanken, die in ihm aufkeimten und ihn für den Rest der Nacht beschäftigten. Er legte sich auf den Boden und lag bis zum Morgengrauen wach. Noch bevor sein Gast mühsam ein Paar von Frédérics alten Schuhen angezogen hatte und Richtung Dieuse verschwunden war, traf er seine Entscheidung.
* * *
Wie Frédéric nach Ulm kam, ist unklar, auch Großvater schenkte dem Umstand kein Interesse, er übersprang diesen Teil der Geschichte. Vielleicht hatte Frédéric die Schafe, das Schwein, ja den ganzen Hof verkauft, bevor er sich Richtung Sarraburg in Bewegung setzte, um dann die Vogesen zu überqueren.
Wahrscheinlicher aber ist, dass er bei Nacht und Nebel verschwand, um sich dem Druck der französischen Beamten zu entziehen. Er hatte sich Leuten angeschlossen, die aus Metz, Nancy und aus Dörfern, von denen er noch nie etwas gehört hatte, in derselben Richtung unterwegs waren. Er hatte den Rhein überquert, bald war der Menschenstrom angeschwollen, und Pfälzer, Trierer, Badenerhatten sich hinzugesellt, die ebenfalls in den Osten wollten.
Oft genug reisten sie barfuß oder mit kaputtem Schuhwerk, marschierten neben den Karren her, auf denen nur selten schwangeren Frauen, Alten und Kleinkindern Platz gemacht wurde. Doch auch wenn die Schuhe noch kurz vor der Abreise frisch besohlt worden waren, am Schluss würde davon nicht mehr viel übrig bleiben. Viele Füße haben sich damals in Bewegung gesetzt. Viele ausgemergelte Körper.
Jedenfalls tauchte Frédéric Großvater zufolge etwa ein halbes Jahr später in Ulm auf, dort, wo die Blau in die Donau mündet, etwas außerhalb der Stadtmauer. Mit einem Sackmesser höhlte er ein Stück Holz aus, während er ratlos aufs Wasser starrte. Als Erstes hatte er die Ulmer Schiffsleute, die sich jeden Abend im Fischer-Viertel trafen, aufgesucht, um sich bei ihnen nach der Möglichkeit einer Weiterfahrt zu erkundigen.
Manch einer war gerade aus Wien zurückgekehrt, wo er sein Schiff verkauft hatte, da er damit nicht mehr zurück, stromaufwärts, fahren konnte. Die Schiffsleute warteten auf neue Kundschaft, die in das Banat wollte. Daran mangelte es nicht, denn täglich kamen vierzig oder fünfzig Leute in Ulm an, viel mehr, als die Schiffsleute bewältigen konnten. Doch weil inzwischen der Strom Hochwasser führte, weil man mit dem Bauen der Schiffe kaum nachkam, von denen nicht wenige an den Felsen zerschellten oder in den Stromschnellen
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