Jade-Augen
wandte sich ab und segelte auf ihre Eingangstür zu.
»Mit Verlaub, Lady Sale, aber es gibt im Augenblick wichtigere Angelegenheiten, die Ihrer Aufmerksamkeit bedürften.«
Ihre Ladyschaft hielt inne und blickte über ihre Schulter zurück zu Annabel, die noch immer an ihrem Gartentor stand. Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich, als sie über einen Gedanken zu stolpern schien, dann fragte sie schroff: »Meinen Sie, wir werden durchkommen?«
»Das weiß ich nicht«, entgegnete Annabel, als ob die ungewöhnlich vertrauensvolle Frage im Zusammenhang mit ihrem vorangegangenen Gespräch nicht im mindesten unangebracht wäre. »Aber was wir auch an Kräften haben, wir werden sie brauchen. Und diejenigen, die anführen, müssen sie sehen lassen.«
Einen Augenblick dachte sie nach und nickte dann: »Vielleicht sind Sie eine schamlose Dirne, Miss, aber Ihr Kopf scheint auf dem rechten Fleck. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.«
»Gute Nacht, Ma’am.«
Annabel wartete, bis der Diener Lady Sale in ihren Bungalow eingelassen hatte, bevor sie ihren Weg fortsetzte und sich fragte, ob sie Kit von dieser Begegnung berichten sollte. Er würde es ohnehin von Lady Sale zu hören bekommen. Es würde ihn zweifelsohne ärgerlich machen, aber auf sie hatte das Zusammentreffen mit Lady Sale eine merkwürdige Wirkung gehabt. Irgend etwas war klarer geworden, und sie schwankte, ob sie sich diesem Etwas stellen wollte. Allmählich fühlte sie sich hinter den Wällen am richtigen Ort. Ihr Schicksal verband sich untrennbar mit jenem der Kantonnementsbewohner, aber nicht einfach auf Grund des Ausnahmezustandes oder ihrer körperlichen Anwesenheit hier.
Es war nicht einfach auf Grund ihrer körperlichen Anwesenheit hier.
Ihr schneller Schritt verlangsamte sich, als die Bedeutung dieser Worte ihr unter die Haut kroch. Wie war das geschehen? Das subtile Hinübergleiten von afghanischer Verachtung zum Stehen auf der Seite des angeblich verachtenswerten Feindes? Lag es nur daran, daß sie in Liebe mit Kit verbunden war? In der Freundschaft zu Colin und Bob? Im Einverständnis mit Harley? Oder war es etwas tiefer Greifendes? Das Vermächtnis ihrer Kindheit, das unter der Überlagerung durch Akbar Khans Erziehung lebendig hervorbrach, so daß Ayesha plötzlich künstlich wirkte und die eigentliche Annabel sich auf dem Humus ihrer Herkunft erneuerte?
Das war eine tief verwirrende Vorstellung, doch zur gleichen Zeit merkwürdig aufregend. Und es war eine, die ihre Entschlossenheit festigte, ihr Wissen über Akhbar Khan zum größtmöglichen Nutzen einzusetzen. Wenn sie zu diesem Volk gehörte, dann war sie ihm ihre Loyalität und den Vorteil ihrer Erfahrung schuldig. Niemand sonst im Kantonnement wußte, was sie wußte, und es wäre ein fataler Fehler, sollten sie angesichts der Niederlage dieses Tages und der allgemein hoffnungslosen Lage das zurückweisen, was sie anzubieten hatte.
Tief in Gedanken betrat sie den Bungalow. Harleys ängstliche Frage »Geht es dem Hauptmann gut, Miss?« weckte sie aus ihren Grübeleien.
»Ja, Harley. Hast du schon gehört, was sich ereignet hat?«
Der gleichmütige Gesichtsausdruck des Burschen wandelte sich zu grimmigem Abscheu. »Ja, Miss. Eine verdammte Schande war es, ich bitte um Entschuldigung, Miss.«
»Ich würde nicht zu hart urteilen«, riet sie ihm. »Wir alle könnten uns bald einem Ghazi-Säbel gegenüber finden.«
»Meinen Rücken werden die jedenfalls nicht zu Gesicht bekommen«, versicherte Harley und stürmte zurück in die Küche.
Kit kehrte spät zurück. »Ich habe gehört, du hattest ein offenes Gespräch mit Lady Sale«, sagte er ohne Einleitung und schnüffelte hungrig an der Schüssel mit Antilopenfleisch, die Annabel ihm vorsetzte.
»Wie hast du das so schnell herausgefunden?« Sie sah ihn überrascht an.
»Ich wurde von ihrem Diener auf dem Heimweg abgepaßt mit der Bitte, ihr einen kurzen Besuch abzustatten.« Er füllte sich eine großzügige Menge des geschmorten Fleisches auf den Teller. »Das Essen sollte mir eigentlich im Halse steckenbleiben bei dem Gedanken daran, wie du zu seinen Zutaten gekommen bist, aber aus irgendeinem Grund tut es das nicht.«
»Unter den gegebenen Umständen wäre es auch sehr dumm, wenn du dir den Appetit verderben ließest. Alle anderen gehen hungrig zu Bett«, antwortete sie übermütig. »Was hatte die Dame denn zu sagen?«
»Sie wollte wissen, wer du bist. Ich nehme an, du warst nicht allzu mitteilsam.« Er hob fragend eine Braue.
»Ich war
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