Jade-Augen
sehr höflich«, sagte Annabel. »Aber sie schien daran zu zweifeln, daß ich aus Peshawar komme. Sie sagte jedoch auch, daß sie dich zu lange kenne, als daß du ihr einen Bären aufbinden könntest; sie habe dir sowieso nicht geglaubt, als du es abstrittest, eine Engländerin unter deinem Dach zu beherbergen.«
Kit kaute unverdrossen. »Nun, ich fürchte, ich habe ihr gesagt, daß es sie nichts angeht, und wir sind daher nicht als Freunde auseinandergegangen.«
»Oje. Ich fürchte, das ist meine Schuld.«
»So könnte man es sagen.« Er ließ es sich weiterhin schmecken.
»Aber wie kann einer solchen Albernheit jetzt noch soviel Bedeutung beigemessen werden?« rief sie ehrlich überrascht.
»Formen und Zeremonien nehmen gerade dann eine besondere Bedeutung an, wenn das gewohnte Leben auseinanderzubrechen droht«, erklärte Kit. »Sitten, Rituale, Etikette sind auf einmal alles, was beständig ist. Sind sie erst einmal zerstört, dann ist für Lady Sale und andere alle Hoffnung und Kraft dahin.« Während er noch sprach, wurde er sich bewußt, daß er noch vor wenigen Monaten nicht einmal den kleinsten Versuch unternommen hätte, jene zu verstehen, geschweige denn sie zu verteidigen, die er so freizügig zu altertümlichen Dummköpfen und Langweilern zu erklären pflegte.
»Lady Sale ist zwar ganz und gar etepetete, gleichwohl eine Frau von großer Energie und Tatkraft«, fuhr er fort. »Es dient dem Interesse aller Beteiligten, daß sie diese Tatkraft aufrechterhält, denn zu viele Frauen im Kantonnement sind auf ihre Führung angewiesen.«
»Offensichtlich«, Annabel bestätigte dies; »und genau das habe ich ihr auch gesagt.«
Kit sah sie überrascht an. »Das hast du wirklich getan?«
»Jawohl, und sie schien es mir nicht übelzunehmen.« … tapfer fügte sie hinzu: »Sie hat sogar gesagt, daß ich zwar eine schamlose Dirne sei, daß sich aber mein Kopf scheinbar auf dem rechten Fleck befinde.«
Kit lachte. Es war kein sehr herzliches Lachen, aber es war ein Schritt in die richtige Richtung, dachte Annabel und schenkte ihm Tee nach.
»Was ist beschlossen worden?« fragte sie und wandte sich einem Thema von viel größerem Interesse zu.
Kit runzelte die Stirn. »Nichts im Augenblick, nur Jammern von Elphinstone, Geschrei von Macnaghten und Ärger von Shelton. Ich gehe zu ihnen, sobald ich mit dem Essen fertig bin.«
»Laß mich mitkommen«, bat sie drängend.
»Oh, sei nicht so eingebildet.« Er schob seinen Stuhl zurück. »Das letzte, was wir in diesem Augenblick gebrauchen können, bist du, die die Dinge nur noch mehr verwirrt.«
»Das tut weh, Kit. Warum würde ich die Dinge mehr verwirren?«
Die Anstrengung, die es ihn kostete, seine Ungeduld unter Kontrolle zu halten, stand ihm klar im Gesicht geschrieben. »Liebste, ich werde dich dort nicht als die einstmalige Bewohnerin von Akbar Khans Zenana vorstellen. Ich weigere mich, die intimen Details deiner Geschichte zu veröffentlichen, und solange ich dazu nicht bereit bin, werden sie deinen Wissensperlen keinen Glauben schenken. Sie würden in dir nur meine Mätresse sehen und in mir nur einen vernarrten Dummkopf, der weitschweifend von seinen Talenten erzählt. Macnaghten würde mich vor allen anderen auslachen, und Elphinstone würde wahrscheinlich auf einmal sehr steif werden wegen des bedenklichen Benehmens eines Kavallerieoffiziers, der eine derartig exotische Kreatur unter seinem Dach wohnen läßt.«
Sie verschränkte die Arme und wandte sich ab. »So steht es also. Ich glaube, in diesem Fall gehe ich zu Bett.«
Einen Moment lang stand er unschlüssig und verdrossen da, sie vor den Kopf gestoßen zu haben, doch irgendwie fühlte er sich zu müde und niedergeschlagen, um sie zu besänftigen. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird«, er knöpfte seinen Uniformrock zu.
»Ich bin sicher, ich werde schlafen«, antwortete sie hart. »Gute Nacht.« An ihm vorbeirauschend verließ sie das Eßzimmer.
»Verdammt!« Er machte einen Schritt hinterher, schüttelte dann aber den Kopf, als wolle er seine Gereiztheit loswerden. Das war eine Angelegenheit, für die ihm heute die Kraft fehlte.
Die lange Nacht hindurch, in der in endlosem Debattieren scharfe Worte durch den rauchgeschwängerten Raum des Generals schossen und Vorschläge sowie Schuldzuweisungen hin- und herbrandeten, hatte Kit wenig Energie übrig, um über Annabels verletzte Gefühle nachzudenken. Erst als im frühen Morgengrauen eine Botschaft für den Kronbevollmächtigten
Weitere Kostenlose Bücher