Jaeger
ihren Ausbruch. »Hören Sie, es tut mir leid. Ich war … Man hat mich hergeschickt, damit ich jemanden namens Tyrell treffe. Angeblich soll er hier sein. Er …« Sie seufzte. »Er muss hier sein.«
»Hör zu, Schätzchen. Ich kenne jeden hier im Pub, und es gibt keinen, der Tyrell heißt.«
Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen und musterte jedes Gesicht auf der Suche nach der Wahrheit, als wäre sie ein menschlicher Lügendetektor. Keiner der Männer verzog auch nur eine Miene. Sie schauten zum Fernseher oder waren mit ihren Drinks beschäftigt. Ein kleiner, schäbig gekleideter Mann mittleren Alters starrte durch eins der winzigen Fenster, das aussah wie das Fenster einer Zelle, in Richtung Canvey Island, als hätte er die Insel noch nie zuvor in seinem Leben gesehen. Die meisten schienen nicht zu wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Vielleicht hätten sie der verzweifelten Frau gerne geholfen, doch mit einer Wahnsinnigen, die hier in aller Öffentlichkeit eine peinliche Szene machte, wollten sie lieber nichts zu tun haben.
Marina drehte sich wieder zur Theke. »Bitte, es muss doch …«
Der Barkeeper schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Schätzchen, aber ich kann dir nicht weiterhelfen.«
Noch nie hatte Marina sich so hilflos gefühlt. Was nützte ihr da all das Fachwissen oder ihre jahrelange Erfahrung? Durch ihren Gefühlsausbruch hatte sie jeden Vorteil, den sie zuvor vielleicht gehabt hätte, verspielt. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wünschte, Phil wäre bei ihr. Ihn hätten diese Männer nicht angelogen. Ihm hätten sie nichts verheimlicht. Das hätten sie nicht gewagt. Sie beschloss, es noch ein letztes Mal zu versuchen. Sie hatte nichts zu verlieren.
Sie senkte die Stimme so weit, dass nur noch der Barkeeper sie hören konnte. Erneut fixierte sie ihn. »Hören Sie mir zu. Tyrell ist hier. Er muss hier sein, mir wurde gesagt, dass er hier ist. Ich muss ihn treffen. Es ist sehr wichtig, dass ich mit ihm spreche. Sehr, sehr wichtig. Also sagen Sie mir bitte, welcher von den Gästen es ist, damit ich mit ihm reden kann. Danach werde ich Sie auch nicht weiter behelligen. Bitte.«
»Hör zu, Schätzchen, ich würd’s ja sagen, wenn ich’s könnte. Ich kann’s aber nicht. Hier gibt’s nämlich niemanden, der Tyrell heißt, und ich kenne auch keinen Tyrell.« Er hob die Schultern, als sei die Angelegenheit damit erledigt. »Also. War’s das jetzt?«
Marina spürte ohnmächtigen Zorn in sich aufsteigen. Das Bild von Josephina in ihrem Kopf verblasste und damit die Hoffnung, sie jemals zu finden. Ein allerletztes Mal. »Sie lügen. Das kann gar nicht sein. Es ist dringend. Ich muss Tyrell finden. Bitte. Sie müssen mir helfen.«
»Ich muss gar nichts, Schätzchen. Außer die Bar hier führen.« Er wies auf die dürftige Auswahl an Alkoholika. »Gin Tonic?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Na, dann gehst du jetzt wohl besser.«
Marina wusste nicht, wohin sie sich wenden, was sie denken oder empfinden sollte. Geschweige denn, was sie als Nächstes tun sollte.
Love Will Tear Us Apart .
Das Handy. Sie holte es aus ihrer Tasche und nahm den Anruf entgegen.
»Gehen Sie nach draußen«, befahl die Stimme.
Marina gehorchte. Das Sonnenlicht und die Wärme trafen sie so unvermittelt, dass sie die Augen zusammenkneifen musste. Sie hatte ganz vergessen, dass draußen heller Tag war.
»Und? War Tyrell da?«, erkundigte sich die Stimme. »Haben Sie mit ihm sprechen können?«
»Nein«, sagte sie. »Der Barkeeper hat behauptet, es gäbe niemanden, der Tyrell heißt.«
Die Stimme lachte. »Womit er recht hat. Es gibt ihn tatsächlich nicht.«
Marina runzelte die Stirn. »Was?«
»Das war ein Test. Um zu sehen, ob Sie Anweisungen folgen können. Tun Sie, was man Ihnen sagt, sprechen Sie mit niemandem darüber, sorgen Sie dafür, dass Ihnen keiner folgt. Sie haben bestanden. Braves Mädchen.«
Erneut brachen unterschiedlichste Gefühle über Marina herein. Wut. Beklemmung. Verzweiflung. Sie alle wirbelten in ihrem Kopf durcheinander und wuchsen sich zu einem reißenden Strudel aus. »Wo ist sie?«
Keine Antwort.
»Wo ist sie?«
»Sie dürfen sie sehen. Sobald Sie gemacht haben, was wir von Ihnen verlangen.«
»Aber wann –«
»Wir melden uns wieder«, schnitt die Stimme ihr das Wort ab.
»Was?« Marina war fassungslos. Sie hatte Angst, dass sie, wenn er jetzt auflegte, jede Hoffnung, ihre Tochter wiederzusehen, endgültig begraben konnte. »Aber das können Sie
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