Jaeger
nicht zur Ruhe.
Eigentlich hatte er gedacht, dass der Wohnwagen ihn beruhigen müsste, weil er ihn an seine Zelle erinnerte. Er war eng und roch schlecht, selbst bei geöffneten Fenstern. Als würden die Geister der früheren Bewohner noch darin spuken. Alles war abgenutzt, und nichts gehörte ihm; er benutzte die Sachen lediglich, bis der nächste Bewohner kam.
Aber irgendwann erkannte er, dass die Umgebung des Wohnwagens, statt ihn zu entspannen, genau das Gegenteil bewirkte, nämlich ihn immer nervöser machte.
Seit Jiminy Grille gegangen war, hatte niemand mit ihm gesprochen oder bei ihm hereingeschaut. Grundsätzlich war das schon in Ordnung, denn er war es gewohnt, viel Zeit allein zu verbringen. Schließlich hatte er das jahrelang gemacht. Aber jetzt kam es ihm irgendwie anders vor, und er wollte versuchen herauszufinden, woran das lag.
Schuld war nicht die weite Landschaft draußen, das stand fest. Auch nicht der Ausblick. In seiner Zelle hatte er ebenso aus dem Fenster schauen können. Außerdem war es jetzt dunkel. Die Stille? Vielleicht. Im Gefängnis war es immer laut gewesen. Eigentlich würde man denken, dass Männer, die hinter dicken, schalldichten Eisentüren eingesperrt waren, nicht besonders viel Lärm machen konnten, doch in Wirklichkeit war es in Gefängnissen fast niemals wirklich ruhig. Er konnte die Nächte gar nicht zählen, in denen er wachgelegen und krampfhaft versucht hatte, nicht auf das Schreien und Weinen der anderen zu hören. Auf das Stammeln und Murmeln und Flehen. Und dann waren da noch andere gewesen – die Schwachen, die aber so taten, als wären sie stark, und die den Schreihälsen zuriefen: Sing doch mal ein Lied für uns. Erzähl uns einen Witz. Sag ein Gedicht auf. Erzähl uns deine Lebensgeschichte. Die höhnisch lachten und den anderen wortreich schilderten, was passieren würde, wenn sie gehorchten. Und was, wenn nicht.
In der ersten Zeit hatte er noch versucht, den nächtlichen Stimmen am nächsten Morgen Gesichter zuzuordnen. Dahinterzukommen, wer in der Nacht was gesagt hatte. Doch das hatte er schnell wieder sein lassen. Denn wenn er so etwas bei den anderen machte, machten sie es bestimmt auch bei ihm, und er wollte nicht, dass irgendjemand seine Stimme von tagsüber mit seinem nächtlichen Schluchzen in Verbindung brachte.
Schließlich war es so weit gekommen, dass er das Gefühl gehabt hatte, ohne den Lärm gar nicht mehr schlafen zu können.
Und hier gab es so gut wie keinen Lärm.
Abgesehen von dem Kind.
Er hatte es gleich bei seiner Ankunft gehört und sich nach ihm erkundigt. Wo war das Kind, weshalb weinte es so? Keine Antwort. Irgendwann hatte das Weinen aufgehört, und er hatte sich nicht weiter darum gekümmert. Hatte sogar daran zu zweifeln begonnen, ob er es wirklich gehört hatte. Vielleicht war es gar nicht real gewesen, sondern nur in seinem Kopf. In seinem Kopf hörte er immer alles Mögliche. Und immer war ihm bis jetzt gesagt worden, dass das alles nur Einbildung sei.
Also hatte er beschlossen, nicht weiter darüber nachzudenken. Er hatte seinen Kopf ganz leer gemacht. Das war nicht weiter schwierig gewesen. Im Gefängnis hatten sie ihm regelmäßig Tabletten gegeben. Sie hatten gegen seine Kopfschmerzen helfen sollen, ihn aber gleichzeitig manches vergessen lassen. Er hatte gewissermaßen einen Kopf voller Nadeln gegen einen Kopf voller Watte eingetauscht. Er hatte ihnen zu erklären versucht, dass es nicht immer nur sein Kopf war, der weh tat, sondern manchmal auch sein Herz. Dummerweise hatte er keine Ahnung gehabt, weshalb es weh tat, und das hatte die Sache nur noch schlimmer gemacht. Vergessen war da in jedem Fall die bessere Lösung gewesen.
Das Gefängnis. Er konnte sich schon gar nicht mehr genau daran erinnern. Wie lange war er jetzt in Freiheit? Einen Tag? Länger? Kürzer? Nein, einen Tag, da war er sich ganz sicher. Er hatte noch nicht im Wohnwagen geschlafen. An das Aufwachen hätte er sich erinnert.
Gefängnis, das war ein winziger Raum, so wie dieser Wohnwagen. Gefängnis war drei Mahlzeiten am Tag. Gefängnis war im Quadrat laufen. Gefängnis war Klassenzimmer und Werkstätten und Bücher. Gefängnis war Rückzug in den eigenen Kopf. Aber Gefängnis war nicht das hier. Im Gefängnis gab es keine Tür, die man einfach so öffnen konnte.
Und genau das war es, was ihm Angst machte.
Wenn er wollte, konnte er jederzeit aufstehen und nach draußen gehen. Er musste niemanden darum bitten. Er musste nicht auf bestimmte Zeiten
Weitere Kostenlose Bücher