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Jaeger

Jaeger

Titel: Jaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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warten. Er konnte ganz einfach hingehen und die Tür öffnen.
    Aber er tat es nicht. Brachte es nicht über sich.
    Wagte nicht mal einen Versuch.
    Er betrachtete die Tür. Die Klinke. Beides aus Metall. Sehr stabil sahen sie nicht aus. Nur herunterdrücken. Aufschieben. Schon wäre er draußen.
    Während er noch auf die Tür starrte, merkte er schon, wie er aufstand, als würde eine unsichtbare Kraft ihn lenken. Wie die Voodoo-Priester mit ihren Zombies im Film.
    In zwei Schritten durchquerte er den Wohnwagen. Streckte die Hand aus. Sie schwebte über der Türklinke. Er berührte sie nicht, aber er konnte sie spüren. Erahnen. Energiewellen strömten von ihr in seine Hand aus. Wollten ihn dazu bringen, dass er die Finger um die Klinke schloss, sie herunterdrückte …
    Er nahm die Hand weg und ließ den Arm herunterhängen. Er brachte es nicht fertig. Es war zu lange her. Es war …
    Erneut streckte seine Hand sich nach der Türklinke. Erneut spürte er die Kraft in seinen Fingern. Und erneut ließ er den Arm nach kurzer Zeit wieder sinken.
    Seufzend wandte er sich ab und ging zurück zum Bett. Er wollte sich gerade hinsetzen, als er ein Geräusch vernahm.
    Das Kind hatte wieder angefangen zu weinen.
    Tyrell blieb stehen. Horchte. Es kam von draußen. Aus dem Haus, neben dem der Wohnwagen stand. Er hatte es sich also doch nicht eingebildet. Das Weinen war echt.
    Noch einmal wandte er sich zur Tür. Streckte die Hand aus. Ließ sie fallen.
    Das Kind weinte weiter.
    In seinem Kopf passierte etwas. Irgendwo im Nebel außerhalb der Reichweite seiner Erinnerung setzte sich etwas in Gang. Es hatte mit einem Kind zu tun. Einem kleinen Kind. Mit nächtlichem Weinen. Es war in seinem Kopf. In seinem Herzen. Tief unten, ganz tief. Er wollte nicht daran denken. Musste irgendwie dafür sorgen, dass es aufhörte. Damit er wieder seine Ruhe hatte.
    Das Weinen hielt an.
    Er streckte die Hand nach der Türklinke aus. Sein Herz klopfte, seine Knie zitterten.
    Er umfasste die Klinke.
    Er spürte das Blut in seinem Kopf pochen. Hörte es in seinen Ohren rauschen. Fast hätte es das Kind übertönt. Fast, aber nicht ganz.
    Er griff die Klinke fester. Holte tief Luft. Dann noch einmal.
    Drückte sie hinunter.
    Und trat ins Freie.
    21 Marina konnte nicht schlafen. Von allem, was ihr an diesem Tag widerfahren war, kam dies am wenigsten überraschend.
    Das Hotel war erst vor kurzem fertiggestellt worden und hatte außer ihr fast keine Gäste. An einem Karfreitag blieben die Geschäftsreisenden aus. Berieselungsmusik begleitete sie durch beige gestrichene Flure. Marina fragte sich, wie es sein konnte, dass man in einem nagelneuen Gebäude das Gefühl hatte, es würde spuken.
    Sie saß auf der Bettkante, als rechne sie jeden Moment damit, aufspringen zu müssen. Es gelang ihr nicht, sich auch nur ein klein wenig zu entspannen. Sie zielte mit der Fernbedienung auf den Fernsehapparat und zappte sich auf der Suche nach Neuigkeiten über ihre Tochter oder ihren Mann durch die Kanäle. Eine Comedy-Talkshow, die sie früher amüsant gefunden hatte, ging ihr jetzt nur noch auf den Geist. Weiter. Ein Hollywood-Blockbuster mit spektakulären Stunts, in dem jemand in letzter Sekunde einer tödlichen Explosion entkam. Weiter. Eine moderne, krampfhaft um großstädtisches Flair bemühte Musical-Version der Kreuzigung Christi mit jungen Schauspielschülern. Weiter. Nachrichten. Sie verfolgte die Meldungen mit leicht zusammengekniffenen Augen, als müsse sie sich für einen Schlag wappnen. Nichts.
    Sie warf die Fernbedienung hin. Ließ sich rückwärts aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Die Verzweiflung drohte sie von innen aufzufressen. Sie dachte an ihre Familie.
    Bevor Phil in ihr Leben getreten war, bevor sie Josephina bekommen hatten, war Familie für sie keine Lebensform gewesen, die man anstrebte, sondern eine, der es um jeden Preis zu entkommen galt. Die Nonnen auf ihrer Schule hatten ihnen ständig gepredigt, die Familie sei das Allerwichtigste im Leben. Marina hatte dagesessen und aus Angst vor Schlägen den Mund gehalten, aber im Stillen hatte sie gedacht: Ach, wirklich? Dann habt ihr meine noch nicht kennengelernt.
    Ihr Vater war ein verlogener, untreuer, alkoholsüchtiger Tyrann gewesen, der seine Frau regelmäßig geschlagen hatte. Marina war gerade sieben gewesen, als er die Familie verlassen hatte, allerdings war er auch danach noch in unregelmäßigen Abständen bei ihnen aufgetaucht, um sie in den Genuss seiner ganz eigenen Art

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