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Jaeger

Jaeger

Titel: Jaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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von Schmerz und seelischer Grausamkeit kommen zu lassen. Ihre Mutter war mehr Sandsack als Mensch gewesen, und als Marina ihre beiden Brüder zum letzten Mal gesehen hatte, waren diese kräftig bemüht gewesen, ihrem Vater nachzueifern.
    Doch auch wenn die Nonnen in ihrem hartnäckigen Streben, ihr die Augen für die Liebe Jesu Christi zu öffnen, keine vom Gesetz erlaubte Methode der Züchtigung ausgelassen hatten, sei sie nun körperlich oder seelisch, so hatten sie doch etwas ganz Entscheidendes richtig gemacht: Sie hatten Marinas Intelligenz erkannt.
    Nach der Sekundarschule in Balsall Heath, Birmingham, hatte ein Stipendium es ihr ermöglicht, nach Cambridge zu gehen und dort Psychologie zu studieren. Damals war die Fächerwahl für sie eine Art Rache an ihrem Vater gewesen: Sie wollte verstehen, warum er so war, wie er war. Marina hatte das italienische Aussehen von ihm geerbt und, wie sie manchmal befürchtete, auch das Temperament. Ohne dass sie sich dessen bewusst gewesen wäre, war das Studium für sie ein Weg gewesen, zu einem neuen Verständnis ihrer selbst zu gelangen. Und auf diese Weise zu verhindern, dass sie eines Tages so würde wie er.
    Ihre Mutter war an Krebs gestorben und hatte nicht mehr miterleben dürfen, wie ihre Tochter das Studium abschloss. Marina war immer noch traurig darüber, auch wenn sie tief in ihrem Herzen wusste, dass ihre Mutter stolz auf sie gewesen wäre.
    Was man von ihren Brüdern nicht gerade behaupten konnte. Das Letzte, was sie von ihrem älteren Bruder Lanzo gehört hatte, war, dass er wegen mehrerer Tankstellenüberfälle in der Justizvollzugsanstalt Walsall einsaß und wohl so schnell nicht wieder freikommen würde.
    Ihr anderer Bruder Alessandro hatte sich erst kürzlich bei ihr gemeldet. Er lebte mittlerweile in Jaywick und hatte vorgeschlagen, sich zu einem gemeinsamen Abendessen zu treffen. Sie hatte ablehnen wollen, doch Phil, der als Einzelkind aufgewachsen war, hatte sie dazu überredet, es wenigstens zu versuchen.
    Also hatten sie sich im Warehouse, einer Brasserie in Colchester, verabredet. Alessandro hatte kaum einen Fuß ins Lokal gesetzt, da wusste Marina bereits, dass das Treffen ein schrecklicher Fehler war. Er hatte eine Frau dabei, die gekleidet war, als müsse sie nach dem Essen noch zur Spätschicht in einen drittklassigen Stripclub, und sobald Alessandro hörte, was Phil beruflich machte, ließ er einen Schwall wüster Beschimpfungen in zwei Sprachen auf ihn los.
    Bis zum Dessert kamen sie erst gar nicht.
    Alessandro hatte sich ein paar Tage später noch einmal gemeldet und eine Entschuldigung auf den Anrufbeantworter gemurmelt. Er habe zurzeit jede Menge Stress, und was er gesagt habe, tue ihm leid. Sie solle wissen, dass er immer für seine kleine Schwester da sei. Ob sie es nicht noch einmal miteinander versuchen sollten?
    Marina hatte ihn nicht zurückgerufen.
    Phil und Josephina waren jetzt ihre Familie. Und nie hatte sie sie so sehr gebraucht wie jetzt.
    Marina stand vom Bett auf und versuchte, ihre Tränen und Schreie zurückzudrängen. Sie sah die beiden vor sich: Phil, groß, blond und attraktiv; Josephina mit ihren dunklen Locken und kugelrunden Augen – sie kam nach ihrer Mutter. Marina sehnte sich so unbeschreiblich nach den beiden. Danach, sie zu berühren, sie in den Arm zu nehmen und ihnen zu sagen, was sie ihr bedeuteten. Sie spürte, dass sie einem weiteren emotionalen Zusammenbruch entgegensteuerte, und gab sich einen Ruck. Solche Gedanken waren jetzt nicht hilfreich. Sie musste sich mit etwas Positivem beschäftigen, etwas Konstruktives tun.
    Ihr Blick fiel auf ihre geöffnete Handtasche. Das fremde Handy lag zuoberst. Ihr war, als würde es sie anstarren. Sie nahm es in die Hand. Betrachtete es. Es wäre so einfach …
    Nein. Vielleicht wurde es abgehört. Sie sah sich im Zimmer um. Das Telefon auf dem Nachttisch. Ein Apparat aus beigefarbenem Plastik. Sie sah Phils und Josephinas Gesichter vor sich, und erneut spürte sie, wie sie sich mit jeder Faser ihres Körpers nach ihnen sehnte. Sie musste es riskieren.
    Sie nahm den Hörer ab und drückte die Null für die Verbindung nach draußen. Dann wählte sie die Nummer der Auskunft.
    »Das Ipswich General Hospital, bitte.«
    Sie wurde verbunden. Es tutete. Kurz darauf nahm eine Krankenschwester ab.
    »Ja, hallo«, sagte Marina mit leiser, krächzender Stimme. »Sie haben … Phil Brennan. Bei Ihnen liegt ein Patient namens Phil Brennan. Ich möchte … ich würde gerne … Wie

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