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Jaeger

Jaeger

Titel: Jaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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sah sich um, holte ein paarmal tief Luft, die kalt in seinen Lungen prickelte, und machte sich auf den Weg.
    Er roch das Salz in der Luft. Es erinnerte ihn an das Gefängnis auf der Isle of Sheppey. In der Ferne konnte er Straßenlaternen und die erleuchteten Fenster anderer Häuser ausmachen. Auch im Haus neben dem Wohnwagen brannte Licht. Von dort kam das Weinen des Kindes.
    Zitternd stapfte er aufs Haus zu. Es war alt und groß, aber vielleicht kam es Tyrell auch nur so vor, weil er so lange auf engstem Raum gelebt hatte. Plötzlich musste er an einen anderen Ort denken. Ein anderes Haus. Eine andere Zeit. Eine Zeit, als …
    Nein. Er schloss die Augen. Kniff sie ganz fest zu. Nein. Denk nicht dran. Geh nicht dahin zurück.
    Ganz langsam schlug er die Augen wieder auf. Das Haus stand immer noch da, aber das andere Haus, das Haus aus seiner Erinnerung, war verschwunden.
    Ein Glück.
    Mit unsicheren Schritten ging er weiter. Der Boden war zerfurcht und voller Löcher. Die Hunde gaben keinen Laut von sich. In den Zimmern im Erdgeschoss war es hell. Das Auto, mit dem Jiminy Grille ihn hergebracht hatte, parkte neben dem alten silbernen Auto in der Einfahrt.
    Da. Da war es wieder.
    Er blieb stehen, versuchte den Wind auszublenden, der ihm um die Ohren pfiff, und konzentrierte sich ganz auf das Weinen. Es war ein Kind, ganz sicher. Der Stimme nach zu urteilen ein kleines Mädchen. Es weinte ganz herzzerreißend, offensichtlich war es wegen irgendetwas sehr traurig. Er schlich sich näher heran, bis er direkt neben einem Fenster stand. Es gelang ihm, ein paar Wortfetzen aufzuschnappen.
    »Mama … Papa … Tante … nein, ich will das nicht …«
    Dann fuhr plötzlich eine andere Stimme dazwischen. Eine zornige Stimme, die dem Kind befahl, es solle gefälligst still sein, was es jedoch nur zu noch lauterem Weinen veranlasste.
    Ein Schauer überlief Tyrell, und diesmal nicht nur wegen der Kälte. Wieder geisterte eine Erinnerung durch seinen Kopf. An ein anderes Kind, das traurig und einsam war. Das nach Anerkennung und Liebe suchte und stattdessen Wut und Hass und Schmerzen erleiden musste. Schmerzen, die sich ganz tief in sein Inneres fraßen.
    Erneut schloss er die Augen und versuchte die Erinnerung zu zwingen, wieder in das Dunkel zurückzukehren, aus dem sie gekommen war. Zwing sie, zwing sie …
    Er schlug die Augen auf. Die Erinnerung war fort. Aber das Kind weinte immer noch. Tyrell musste etwas unternehmen. Das Weinen sollte aufhören. Das Kind sollte wieder fröhlich sein.
    Er duckte sich unter das Fenster und spürte eine Empfindung in sich hochsteigen, mit der er zunächst gar nichts anzufangen wusste, weil er sie nicht wiedererkannte. War das vielleicht Mut?
    Ganz langsam kam er hoch und spähte durch die Scheibe. Eine Küche. Auf dem Tisch standen ein Laptop, verschiedene elektronische Geräte, eine halbleere Whiskyflasche und zwei Gläser. Vor dem Laptop saß eine Frau mit merkwürdigem Gesicht, und neben ihr auf dem Boden kauerte ein kleines Mädchen. Sie hatte einen Strick ums Handgelenk, mit dem sie am Türgriff festgebunden war. Sie hatte dunkle Haare und verweinte Augen. Ihr Gesicht war nass und gerötet. Die Frau am Tisch schien fest entschlossen, dem Kind keine Beachtung zu schenken. Sie hatte ebenfalls ein rotes Gesicht, allerdings vermutete Tyrell, dass es bei ihr vom Whisky kam.
    Irgendwann drehte sich die Frau zu der Kleinen um, die prompt vor ihr davonkroch, soweit der Strick es zuließ. Vor lauter Angst hörte sie schlagartig auf zu weinen. Und wieder lief Tyrell ein Schauer durch den Körper. Was hatte die Frau mit dem Kind gemacht, dass es sich so sehr fürchtete?
    »Jetzt halt endlich die Klappe!«, fauchte die Frau. Sie klang eigenartig, als wäre sie nicht richtig gestimmt. »Ich hab’s dir schon mal gesagt: Du kannst nach Hause, wenn deine Mutter macht, was wir ihr sagen.« Sie schüttelte den Kopf und wandte den Blick wieder dem Computerbildschirm zu. »Verdammte kleine Kröte. Ich sollte dich den Hunden vorwerfen …«
    Entsetzen machte sich in Tyrell breit. Er wich vom Fenster zurück, als wäre er geschlagen worden. Dabei verlor er das Gleichgewicht und stürzte. Die Hunde, durch den Lärm aus dem Schlaf geschreckt, fingen an zu bellen. Hastig rappelte er sich auf und presste sich dicht gegen die Hauswand. Reckte ganz langsam den Kopf um die Ecke. Die Hunde waren in der Nähe der Hintertür in einem Zwinger eingesperrt. Sie kläfften mit speicheltriefenden Lefzen und

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