Jäger der Dämmerung
Jacke.
Ihre Mutter lag auf dem Asphalt, bleich und regungslos. So viel Blut.
Erin deckte sie mit der Jacke zu.
»Kann sie sich nicht verwandeln? So wie Jude in dem Keller.«
»Sie ist zu schwach.« Wenn Antonio nicht sehr bald einen Krankenwagen herschickte, war sie tot. Erin strich ihrer Mutter über das blutverklebte Haar. Sie sahen sich wirklich sehr ähnlich.
Als sie klein war, hatte ihre Mutter ihr jeden Abend vor dem Schlafengehen das Haar gekämmt und dabei gelacht.
Ihre Mutter hob sehr langsam die Lider. Sie versuchte, ihre gelben Augen, die überschattet von Schmerz waren, auf Erin zu richten. »L-lauf.« Blut rann ihr aus dem Mundwinkel.
Erin bekam eine Gänsehaut. »Mutter?«
»Lauf!«
Dann hauchte sie ihren Atem aus, und ihr fielen die Augen zu.
»Oh, Gott!«, flüsterte Dee. »Ist sie …«
Erin packte ihren Arm. »Hast du nach dem anderen Fahrer gesehen?«
»Ja, ja, das ist ein Kerl. Ihm geht’s gut, er hat nur einen kleinen Kratzer an der Stirn.«
»Hast du deine Waffe bei dir?« Erin hatte sie vorhin gesehen. Dee trug immer eine Waffe bei sich. Immer.
Dee schob ihre Bluse beiseite, so dass Erin den Knauf sah.
Ein Zweig knackte. Nahe. Zu nahe.
Ihre Mutter hatte sich fast umgebracht. Warum?
Lauf.
Der Wolf, ihre Mutter, war direkt auf den anderen Wagen zugerannt. Hatte ihn angegriffen.
Um mich zu schützen.
Auf einmal war die Nacht zu still: keine Grillen, keine quakenden Frösche, nur Stille.
Dees rechte Hand war über dem Waffenhalfter. Erin sah sie an und sagte stumm: Zieh die Waffe.
Ein Knurren kam von links.
Beide drehten sich um, und Dee hatte ihre Waffe bereit.
Erin erwartete einen Wolf, der auf sie zugestürmt kam.
Doch sie sah einen Mann.
Einen, den sie kannte. Wie bitte?
Richter Lance Harper – der bescheuerte Richter – trat seelenruhig aus dem Dickicht. Blut rann ihm seitlich übers Gesicht. Er lächelte sie an, entblößte seine Reißzähne, und sagte: »Erin, meine wunderschöne Erin, ich werde dich bestrafen müssen.«
Und dann streckte er die Krallen nach ihr aus.
»Erschieß ihn!«, schrie sie Dee an.
Sein Lächeln schwand, und er sprang auf sie zu.
Dee feuerte. Einmal. Zweimal.
Das laute Knallen hallte in Erins Ohren.
Der Richter erstarrte, blickte auf seine Brust hinab, wo Blut durch sein Hemd sickerte, und schüttelte den Kopf. »Da braucht es schon etwas mehr, um mich aufzuhalten.«
Oh ja, als wüsste sie das nicht!
Er griff an.
Zwanzigstes Kapitel
Dee lief vorwärts, zielte auf den Richter, doch der Mistkerl bewegte sich zu schnell. Seine Krallen rissen ihren Arm herunter, dann über ihre Brust. Die Waffe flog ihr aus der Hand, und sie schrie auf, als er ihr die Zähne in die Schulter schlug.
»Nein!« Dee begriff das nicht. Harper war nicht wie andere Gestaltwandler. Er war wie sie, in menschlicher Gestalt fast ebenso stark wie ein gewöhnlicher Wandler in Tiergestalt.
Und wenn er sich wandelte …
Hallo, Hölle.
»Lass sie los, Arschloch!« Erin versenkte die Krallen in seiner Seite und drehte sie.
Er heulte vor Wut und Schmerz und warf Dee in die Luft. Sie landete mit einem fiesen dumpfen Knall und stand nicht wieder auf.
Dee!
Sein Kopf wandte sich nur ganz wenig, und Harper sah Erin in die Augen. Seine waren schlammig braun, sehr dunkel, und bei seinem Grinsen wurde Erin eiskalt. »Ich hab’s ja immer gewusst, dass dir das Blut gefällt. Genau wie mir.«
»Ich bin kein bisschen wie du!« Sie lief rückwärts, eilig bemüht, Abstand zwischen sich und ihm zu schaffen.
Jetzt könnte sie Jude wahrlich gut gebrauchen! Als Dee Hilfe herbeirief, hatte sie mit Night Watch und Antonio gesprochen. Nicht mit Jude und Zane. Dee hatte gedacht, die beiden wären mit ihrer Falle beschäftigt. Sie würden den Stalker schnappen.
Doch er war zu ihr gekommen.
Harper griff mit einer Hand an seine Seite, berührte das Blut dort, das pulsierend aus der Wunde sprudelte. »Ich wollte das hier in menschlicher Form machen.«
Ihre Krallen waren erhoben, bereit. »Was?« Der heiße Harper? Lance Harper? Der Name kreiste in einer Endlosschleife durch ihren Kopf. Sie war so oft in seinem Gerichtssaal gewesen, ihm so nahe gewesen und hatte nie den geringsten Verdacht geschöpft.
Er hatte versucht, sie zu vergewaltigen, hatte gefoltert und getötet.
Der Richter?
Sie schüttelte den Kopf. Nein, nein, das ergab überhaupt keinen Sinn.
Er beobachtete sie vollkommen ruhig. Dass sein Blut auf die Straße tropfte, schien er entweder nicht zu bemerken oder es
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