Jäger der Dämmerung
dass er bestechlich war, denn Harper ließ entschieden zu viele Kriminelle als freie Männer aus seinem Gerichtssaal stolzieren.
Zu viele Mistkerle wie Trent.
Sein hübsches Gesicht wurde sehr ernst. »Wenn Sie Ihre alten Akten durchgehen, dann wissen Sie wohl auch von Sylvia?«
Seine Augen veränderten sich. Was war das? Bedauern? Fühlte der Kerl sich schuldig an dem, was passiert war?
Sie jedenfalls tat es. »Ja, ich weiß.«
»Ein Jammer.« Es hörte sich ernst gemeint an. Aber wo war sein Mitleid gewesen, als er Trent laufen ließ? »Ich entsinne mich, dass sie zwei Jungen hatte.«
Jude machte die Schultern gerade. Er überragte den Richter um mindestens zehn Zentimeter und dürfte gut vierzig Pfund schwerer sein als Harper. »Die Jungen sind in guten Händen.«
Harper stutzte. »Entschuldigung, sind Sie der neue Staatsanwalt?«
»Nein.« Er musterte den älteren Mann. Harper war in den frühen Fünfzigern, könnte jedoch problemlos für vierzig durchgehen. Das musste den zahlreichen Fitnessclubs zu verdanken sein, in denen er angeblich Mitglied war.
Seine braunen Augen verengten sich. »Und wer sind Sie dann?«
Erin ergriff Judes Hand. »Er gehört zu mir.« Mehr musste der Richter nicht wissen.
Arroganter Idiot. Sie hatte es immer gehasst, vor seinem Richtertisch zu stehen, hatte sich extra ihre längsten Röcke und ihre strengsten Blusen angezogen.
»Der heiße Harper« mochte bei einigen anderen Anwältinnen beliebt gewesen sein, aber Erin lag nichts ferner, als auf die Stelle der Ehefrau Nummer vier zu spekulieren.
»Ah, verstehe«, sagte Harper. »Weiß Cartwright, dass Sie hier unten sind?«
Gemeint war Bezirksstaatsanwalt Cartwright. »Ja, weiß er.« Kent hatte ihr geholfen, den Job in Baton Rouge zu bekommen. Und er war es auch, den Jude heute Morgen eine halbe Stunde lang verhört hatte. Kent schwor, dass er niemandem erzählt hatte, wo Erin war, und sie glaubte ihm. Seine Antworten hatten sehr echt gewirkt.
»Und warum sind Sie hier unten, Richter?« Diese Frage kam von Jude, hatte allerdings auch Erin auf der Zunge gelegen. Es passte überhaupt nicht zu Harper, sich in den Keller zu begeben.
Noch dazu an einem Samstag.
Des Richters Lippen wurden zu zwei schmalen Linien. »Ich wollte mich hier mit … jemandem treffen, um eine private Angelegenheit zu besprechen.«
Ja, natürlich. Jede Wette, dass dieser jemand weiblich war.
Wahrscheinlich eine verheiratete Kollegin, wenn er sie in diesem verlassenen Winkel des Gebäudes traf.
»Erin!« Das war Cartwright, der sich in den Raum drängte und Harper lediglich mit einem verwunderten Blick bedachte. »Erin, ich hatte gerade einen Anruf vom PD und dachte, dass du es gleich wissen willst.«
Es konnte gar nichts Gutes sein.
»Sie bekamen gestern Abend einen Tipp.« Der winzige Raum war zu voll. »Der Anrufer sagte, dass er weiß, wo Donald Trents Leiche begraben ist.«
Erin stockte der Atem.
Sie sah Cartwright an. Der Bezirksstaatsanwalt war nur wenige Jahre älter als sie. Er hatte das offene Gesicht eines sympathischen Politikers, hellbraunes Haar und blaue Augen, die besorgt aussahen.
Der gute alte Kent. Nein, er hatte ihre Geheimnisse ganz gewiss nicht ausgeplaudert.
»Wo?«, fragte sie leise.
»Der Aufzeichnung in der Notrufzentrale nach, liegt er im Wald hinter Katherine LaShauns Haus.«
Mistkerl!
Sie knallte die Akten zu. Jude bahnte ihr bereits einen Weg zwischen den beiden Männern hindurch.
Darin war er richtig gut.
Erin lief ihm nach in den Flur, um eine Ecke herum und direkt in die Arme von Lacy Davis. Sie arbeitete als Sekretärin im Büro des Bezirksstaatsanwalts. Die freundliche, allzeit flirtende, verheiratete Lacy.
Sie gab ein erschrockenes Geräusch von sich und stolperte rückwärts. »Erin?«, fragte sie, die dunkelgrünen Augen weit aufgerissen. »Seit wann bist du wieder in der Stadt?« Ihr Blick wanderte über Erins Schulter, und sie wurde rot. »R-Richter H-Harper, was machen Sie denn hier? Ich dachte, Sie …«
Hierfür fehlte Erin die Zeit. Jude stand am Fahrstuhl, hielt die Türen auf und wartete auf sie. »Ich muss los, Lacy, wir reden später.« Wohl eher nicht, denn sie hatten sich nie nahegestanden.
Klopfenden Herzens lief Erin weiter. Donald Trents Leiche? Verdammt!
»Nicht so schnell, Jerome.«
Kent hatte denselben scharfen Ton drauf, den er sonst nur vor Gericht benutzte.
Sie drehte sich zu ihm um und sah, wie der Richter nach Lacys Hand griff, sich zu ihr beugte und ihr etwas zuraunte.
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