Jäger der Schatten
Himmel stehen und danach das Neulicht erscheinen, die schmale Mondsichel, die die Blue Bloods Halbmondschatten nannte n – ein silberner Schein am Himmel, der einen Neubeginn ankündigte.
Seit Sonntagabend hatte sie keine weiteren außergewöhnlichen E-Mails erhalten, doch Mimi empfand das als beunruhigend. Sam und Ted hatten jeden Venator in New York auf diesen Fall angesetzt, aber das schien nicht genug zu sein. Durch Jahrhunderte des Krieges kannte sie sich hervorragend in Kampftechniken aus und besaß ein tief verwurzeltes Wissen über Heere und Gefechte. Doch nun stand sie einer neuen Gefahr gegenübe r – und die war heimtückisch und unberechenbar. Sie befürchtete, dass die Blue Bloods zu sehr daran gewöhnt waren, überlegen zu sein, sich zu sehr auf ihre Kräfte verließen, dass es ihnen an Talent fehlte, mit Entführung und Unterwanderung umzugehen.
Mimi stützte den Kopf auf ihre Hände und dachte so angestrengt nach, dass sie fürchtete, ihr Gehirn würde gleich platzen. Sie war zahllose Bücher durchgegangen, hatte sich die Geschichte des Regis angesehen, die Geschichte seiner Führerschaft, die bisherigen Strategien in Krisenzeiten. Sie hatte jede Entscheidung studiert, die ihre Gemeinschaft bis hierher gebracht hatte.
Myles Standis h – Michael, der Reinherzig e – hatte den Blue Bloods versprochen, dass sie in der Neuen Welt einen sicheren Zufluchtsort finden würden und sich damit von der Europäischen Gemeinschaft der Vampire losgesagt. Um das tun zu können, hatte er sich auf die Doktrin des Regis berufen. Das war es. Mimi konnte dasselbe tun. Falls die Venatoren scheitern würden, konnte sie doch etwas tun. Natürlich konnte sie das. Es gab immer eine Lösung. Sie war nicht hilflos. Der Kodex der Vampire führte ihr das klar und deutlich vor Augen.
Die Doktrin des Regis:
Der Regis oder der Vorsitzende des Ältestenrats
muss jede Vorsichtsmaßnahme ergreifen,
um mit allen erforderlichen Mitteln
für die Sicherheit der Gemeinschaft zu sorgen.
In Mimi reifte eine Idee. Mit der Macht, die ihr die Doktrin des Regis verlieh, konnte sie die Schutzschilde außer Kraft setzen. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht?
Es war so einfach. Wer auch immer Victoria entführt hatte, verschleierte ihren Aufenthaltsort und ihre physische Erscheinung in der Gedankenwelt. Doch wenn die Schutzschilde ausgeschaltet waren, würde jeder Blue Blood in der Gedankenwelt sichtbar sein. Jeder Verschleierungszauber würde dadurch aufgehoben werden und die Venatoren wären in der Lage, Victoria in der Gedankenwelt aufzuspüren und zu befreien.
Doch es bestand auch ein Risiko. Die Schutzschilde schirmten die Gemeinschaft ab, verbargen ihre unsterblichen Seelen in der Gedankenwelt und schützten sie damit vor den vielen Gefahren, die die Schattenwelt barg. Ohne die Schutzschilde waren sie praktisch wie Red Bloods. Doch es wäre ja nur ein winziger Moment, dachte Mimi. Sie würde die Schilde wieder aktivieren, sobald sie Victoria zurückgeholt hatten.
Sie musste es versuchen. Wenn die Venatoren erfolglos blieben, würde sie die Schutzschilde außer Kraft setzen. Sie hoffte, dass es nicht so weit kommen würde, aber im Notfall war sie dazu bereit. Sie würde nicht zulassen, dass Victoria verbrannt wurde.
Trotz der großen Gefahr ging Mimis Leben weiter. Insbesondere ihr gesellschaftliches Leben. Sie durfte nicht zu viele der üblichen Verabredungen verpassen, die in ihrem Kalender eingetragen waren. Zuerst würden die Vampire innerhalb der Gemeinschaft zu tuscheln beginnen, dann würden sie sich Sorgen machen, und danach in Panik geraten. Das könnte Mimi nicht ertragen. Es gab schon genug Klatsch und Tratsch seit den Geschehnissen des letzten Monats. Sie musste die Leute ruhig halten und ihnen zeigen, dass es nichts zu befürchten gab. Sie waren noch immer Blue Bloods, die Erleuchteten, die Gesegneten und die Verdammten.
Am Abend sollte eine neue Oper im Lincoln Center aufgeführt werden und ihre Anwesenheit wurde erwartet. Mimi schaltete ihren Computer aus. Sie musste schnell nach Hause und sich umziehen. In ihrem alten Leben hätte sie es genossen, bei dieser Gelegenheit ein neues, scharfes Kleid zu tragen und ihren Schmuck zur Schau zu stellen. Doch jetzt spürte sie nur eine schreckliche Verpflichtung. Sie wollte lieber nach Victoria suchen, mit Oliver im Archiv oder mit den Venatoren in der Gedankenwelt, und nicht zu irgendeiner albernen Galaveranstaltung gehen.
Nach ihrem Besuch im Bluthaus hatte
Weitere Kostenlose Bücher