Jäger der Schatten
zurück.
»Wann hast du sie zuletzt gesehen?«, fragte Oliver in sanftem Tonfall und kniete sich neben den Jungen.
Evan sackte wieder in sich zusammen. »Keine Ahnung.«
»Erinnerst du dich nicht an Jamie Kips Party? Am letzten Wochenende?«, fragte Mimi.
»Wer ist Jamie Kip? Willst du jetzt an mir saugen, oder was?«, fuhr Evan Mimi an und fummelte an ihrem kurzen Kleid herum.
Mimi wies seine Annäherungsversuche zurück und wechselte einen entrüsteten Blick mit Oliver. Er half ihr, Evan wieder zurück auf die Matratze zu legen, wo er sofort einschlief.
»Wie viele Vampire hatten ihn?«, flüsterte Mimi Oliver zu.
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich würde sagen, eine Menge. Er steht ganz schön neben sich. Ich bin überrascht, dass er sich überhaupt an Victoria erinnert.«
»Du erinnerst dich immer an dein erstes Mal«, sagte Mimi. Das galt zumindest für die Vertrauten. Sie vergaßen es niemal s – sie hatten auch keine andere Wahl. Aber galt das auch für die Blue Bloods? Erinnerte sie sich an den ersten Jungen, mit dem sie die Caeremonia vollzogen hatte? Wie war gleich sein Nam e – Scott irgendwas? Sie schüttelte den Kopf.
»Durchsuch seine Gedanken«, schlug Oliver vor.
Mimi nickte. Sie nutzte seine Bewusstlosigkeit für die Gedankenkontrolle aus. Sie sah, wie er am Samstagmorgen auf der Couch in Jamie Kips Penthouse aufwachte, allein, etwas schwach auf den Beinen und desorientiert, aber glücklich. Das gesamte Wochenende verbrachte er wie im Glückstaumel und irrte ziellos durch die Stadt. Dann ließ das Gefühl nach. Sie hatte diesen Anblick schon einmal gesehen: der erste Rausch der Liebe. Er wählte eine Nummer auf seinem Handy. Er rief Victoria an. Er brauchte sie. Er liebte sie mehr als jemals zuvor. Er lief zu ihrem Apartment, doch sie war nicht da. Der Tag verging. Er begann zu leiden. Zu zittern. Das Verlangen. Die Caeremonia hatte ihn mit Victorias Leben verbunden. Er wollte es wieder, wollte, dass sie sein Blut saugte, doch sie war fort. Jetzt war es Dienstag. Er fieberte. Mittwoch. Er ging nicht nach Hause, ging nicht zur Schule. Wie in einem Traum fand er sich im Bluthaus wieder. Seitdem hielt er sich dort auf. Die Venatoren hatten Recht. Er hatte nicht das Geringste mit Victorias Verschwinden zu tun. Er war nur ein weiteres Opfer.
»Evan, wir wollen dich nach Hause bringen. Deine Eltern machen sich Sorgen um dich«, sagte sie und rüttelte ihn wach.
»Ich gehe nicht weg. Ich gehe hier nicht weg.« Er schüttelte den Kopf. Seine Augen waren für einen Moment klar. »Das ist jetzt mein Zuhause.«
Mimi folgte Oliver die Treppe hinab. Sie hatte ihre Kreditkarte zurückbekommen und sie verließen das Bluthaus. Mimi bemerkte, dass sie zitterte. Wie viele Vertraute hatte sie gehabt? Zu viele, um sie zu zählen. Waren einige von ihnen hier gelandet, nachdem sie mit ihnen Schluss gemacht hatte? Hatte sie viele von ihnen diesem Schicksal überlassen? Hatte sie ihnen das angetan? Jungs, die sie benutzt hatte? Sie hatte sie nicht geliebt, aber sie hatte auch nicht gewollt, dass sie so enden würden. Sie wusste, dass sie gleichgültig und selbstsüchtig war. Aber sie war nich t … sie hatte doch nich t …
»Nein«, unterbrach Oliver ihre Gedanken. »Ich weiß, was du denkst, doch so ist es nicht. Sicher, einige von uns halten dem Druck nicht stand, doch das trifft nicht auf alle zu. Du kannst dagegen ankämpfen. Das nennt sich Selbstbeherrschung. Nur diejenigen, die schwach sind, enden hier. Oder die, die Pech haben. Evans Vampir verschwand nach dem ersten Biss. Dann ist das Verlangen am größten. Sowie du es mehrmals erlebt hast, gewöhnst du dich daran. An das Gefühl, unvollständig zu sein.«
»Das heißt, einigen Vertrauten geht es gut? Auch wenn sie es nie mehr tun?«
»Sicher, nicht jeder wird süchtig danach. Du lernst, damit zu leben, es ist wie ein Schmerz, eine Traurigkeit, die niemals vergeht.« Oliver zuckte die Schultern. »Zumindest habe ich das gehört.«
Sie standen draußen auf dem schmutzigen Bürgersteig. Mimi hätte ihm am liebsten tröstend die Hand auf die Schulter gelegt, doch sie wusste nicht, wie er auf diese Geste reagieren würde. Stattdessen sagte sie: »Du wirst nie so enden wie er. Mach dir darüber bloß keine Sorgen.«
»Das hoffe ich«, sagte Oliver. »Aber sag niemals nie.«
Für einen Moment hasste Mimi Skyler van Alen mehr als jemals zuvor. Doch diesmal hatte es nichts mit Jack zu tun.
Der Wankelmütige
Florenz, 1452
Giovanni
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