Jäger der Schatten
Rustici oder Gio, wie ihn jeder nannte, war der neueste Venator der Gruppe, doch schon jetzt einer der besten. Er war außerdem ein ausgezeichneter Bildhauer. Er besaß mehr Talent als Tomi jemals haben würde. In nur wenigen Monaten war er zum Lieblingslehrling des Meisters aufgestiegen. Andreas war immer noch fort. Er hatte ein paar Geschäfte in Siena zu erledigen und würde daher noch mindestens vierzehn weitere Tage wegbleiben. Tagsüber arbeiteten Tomi und Gio an den Türen der Basilika und nachts patrouillierten sie durch die Straßen der Stadt, ruhelos und unsicher.
Tomi vertraute Gio an, dass sie sich Sorgen über die Rolle des Red Blood machte und sich fragte, was das alles zu bedeuten hatte.
»Vielleicht ist es an der Zeit, unserem Freund, dem Wankelmütigen, einen Besuch abzustatten«, schlug Gio vor.
Der Wankelmütige hauste in der Kanalisation der Stadt. Die Kreatur hatte seit einem Jahrhundert kein Tageslicht mehr gesehen und war deshalb verschrumpelt und fast blind, vegetierte in einem elenden Zustand vor sich hin. Sie war zu schwach, um noch irgendeine Gefahr für die Vampire darzustellen, und deshalb hatte Andreas angeordnet, dass niemand den Croatan anrühren durfte, denn er diente ihnen als nützliche Informationsquelle. Als Gegenleistung ließen die Venatoren ihn am Leben. Er hatte ihnen auch verraten, dass einer seiner Art sich in die Palastwache eingeschlichen hatte.
Der Wankelmütige war nicht sehr erfreut, sie zu sehen.
Tomi ignorierte sein Fauchen und zeichnete ein Symbol an die Wand des Kanals. »Wir haben diese Zeichen auf der Haut eines Menschen gefunden. Sag uns, was du darüber weißt.«
Gio stupste das Silver Blood mit der Spitze seines Schwertes an. »Antworte ihr oder wir schicken dich dorthin, wo du hingehörst.«
Der Wankelmütige lachte auf. »Ich fürchte die Hölle nicht.«
»Es gibt schrecklichere Dinge als die Unterwelt. Dein Herr ist sicher unzufrieden mit dir, weil du ihn seit Rom im Stich gelassen hast. Wenn er zurückkehrt, wird er von all seinen Anhängern, die ihn verlassen haben, Vergeltung fordern«, warnte Tomi. »Wer hat dem Menschen das Zeichen verpasst? Und was bedeutet es?«
Gio attackierte die Kreatur mit einer Salve aus harten Schlägen. »Antworte ihr!«
»Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht!« Das Silver Blood duckte sich. »Ich weiß nur, dass euer Freund Savonarola heute zum Kardinal ernannt wird«, sagte es mit einem gemeinen Grinsen.
»Und?«
»Der gute Mönch ist ein Silver Blood.«
»Er lügt. Savonarola ist kein Croatan«, spottete Gio.
Tomi nickte. Der Petruvianermönch war ein Venator gewesen, bevor er dem Klerus beigetreten war.
»Er wurde verseucht, in einen Abscheulichen verwandelt, in Triest«, sagte der Wankelmütige.
In Triest waren die Venatoren von einer ganzen Meute Silver Bloods angegriffen worden. Dennoch hatten die Venatoren an diesem Tag gewonne n – jedenfalls hatte Tomi das immer geglaubt.
»Wer weiß sonst noch davon?«, verlangte Gio zu wissen.
»Andreas del Pollaiuolo«, flüsterte der Wankelmütige.
21
Die Doktrin des Regis
S eitdem sie den Titel der Vorsitzenden des Ältestenrats angenommen hatte, fühlte sich Mimi, als bestünde ihr Leben nur noch aus ewig dauernden Telefonkonferenzen und Diskussionen, die nirgendwo hinführten. Heute war wegen einer Lehrerkonferenz schulfrei und in ihrem alten Leben hätte sie diesen Tag mit einem angenehmen Verwöhnprogramm verbracht: erst ein spätes Frühstück, gefolgt von einer ausgiebigen Massage, dann ein gemütlicher Bummel durch die Boutiquen auf der Madison Avenue mit einer Teepause im The Pierre , danach ein kleines Nickerchen, bevor es zum Abendessen in das neuste Restaurant der Stadt ging.
Doch für solche Vergnügungen hatte sie keine Zeit mehr. Sie verbrachte den Tag eingeschlossen in ihrem Büro, sah Notizen durch und hielt Rücksprache mit diversen Unterkomitees. Als letzte Amtshandlung an diesem Tag beauftragte sie ein Venatorenteam damit, Forsyth Lewellyn zu finden. Während Kingsleys Subvertio Leviathan und Luzifer in der Unterwelt gefangen hielt, waren deren Mitverschwörer noch immer auf freiem Fuß. Die Venatoren hatten einen Hinweis bekommen, dass Forsyth sich nach Argentinien abgesetzt haben könnte, und Mimi hatte eingewilligt, ein Team dorthin zu schicken.
Was Victorias Schicksal betraf, begann Mimi sich ernsthaft Sorgen zu machen. Wie am ersten Tag tappten sie noch immer im Dunkeln und der Mond nahm schnell ab. Schon bald würde der Neumond am
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