Jäger der Schatten
ihr Handy in hoffnungsvoller Erwartung ans Ohr.
»Noch nicht. Aber wir sind auf dem Weg.«
Mimi funkelte den Platzanweiser an, der sie aufforderte, leise zu sein.
»Wo?«
»Im Carlyle Hotel.«
»Ich treffe dich dort.«
Auf dem Bürgersteig vor dem Carlyle Hotel wimmelte es von Red Bloods. Als Mimi durch die Menge lief, hörte sie Gemurmel über »Bombendrohung« und »Evakuierung«. Sie hielt den Sicherheitsleuten ihren Ausweis vom Ältestenrat unter die Nase und betrat die inzwischen leere Lobby.
Oliver stand bei einer Gruppe aus Venatoren, die den Bereich am Fahrstuhl gesichert hatten.
»Tut mir leid wegen Parsifal . Das ist meine Lieblingsoper«, sagte er zur Begrüßung.
»Wo ist sie?«, schnappte Mimi. Sie hatte keine Zeit für Nettigkeiten.
»Wir glauben im Penthouse. Es wurde für einen Monat an irgendeinen Schauspieler vermietet, doch es steht nach Aussage des Hotelmanagers schon seit Tagen leer.«
»Woher weißt du, dass sie hier ist?«
»Wir wissen es nicht. Es ist nur eine Vermutung.« Oliver drückte auf den Fahrstuhlknopf für das oberste Stockwerk. »Ich weiß, dass sich die Venatoren auf diese unterschwelligen Botschaften in dem Video konzentrieren, aber ich dachte, wir sollten vielleicht auch einen genaueren Blick auf das Hauptfilmmaterial werfen. Ich habe es mir Einstellung für Einstellung angesehen und etwas in den Schatten gefunden. Ich habe es technisch vergrößern lassen.«
Er zeigte ihr das Bild auf seinem Handy.
»Und was sehe ich jetzt hier genau?«, fragte Mimi. Es sah aus wie ein Haufen Kringel und nicht wie etwas Aufregendes. Jedenfalls nicht so aufregend, dass man dafür eine ganze Hotellobby räumen und einen Abend in einem renommierten Hotel stören musste. Wendell Randolph, dem das Carlyle gehörte, würde sicher ausrasten. Mimi sah, dass er ihr bereits einige Nachrichten geschickt hatte.
»Das ist ein Ausschnitt von der Tapete hinter ihrem Kopf. Der Glanz des Venatorenseils beleuchtet es ein wenig. Das Muster wird Kohlköpfe und Weinreben genannt. Es ist ein berühmtes Motiv von William Morris, das bis etwa 1880 hergestellt wurde. Doch als das Hotel 1930 gebaut wurde, haben sie dieselbe Textilfabrik beauftragt, die Tapete für das Hotel anzufertigen. Nach der Renovierung im letzten Jahr behielten nur ein paar Zimmer die Originaltapete. Wir haben die anderen beiden Zimmer bereits durchsucht. Das ist das letzte Zimmer.«
»Wir sind hier wegen der Tapete?«, fragte Mimi. »Ihr habt ein ganzes Hotel geräumt, eine gewaltige Gedankenmanipulation angewendet, wegen irgendeines Tapetenmusters?«
»Es ist alles, was wir haben«, sagte Oliver entschuldigend. »Du hast doch behauptet, dass niemand vor deinen Augen stirbt. Wir müssen alles versuchen, oder nicht?«
Die Fahrstuhltür öffnete sich und Mimi sah zu, wie Sam und Ted vor der Tür der Suite Stellung bezogen. Der Rest des Teams postierte sich im Gang.
»Haben wir grünes Licht?«, fragte Ted.
Mimi wusste nicht, was sie sagen sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie ohne ihre Erlaubnis gehandelt, warum sollten sie sich jetzt an das Protokoll halten? Es war zu spät für einen Rückzieher. Vielleicht fragten sie auch nur aus Höflichkeit, weil sie jetzt anwesend war. Es war jedenfalls besser als Helen Archibalds Unverschämtheit. Sie würde ihre Venatoren bei Laune halten.
»Genehmigt.« Sie nickte. »Los!«
Die Einsatztruppe platzte in das Zimmer, schwärmte aus und setzte Gedankenkontrollbomben ein. Dabei hielten die Venatoren ihre glühenden Schwerter hoch erhoben.
Ein Mädchen war an einen Stuhl gefesselt.
Großer Gott, das war nicht Victoria.
Sie hatten den Schauspieler überrascht, einen Filmstar, der letzte Nacht mit seiner neuen Freundin zurückgekommen war. Als er die ganz in Schwarz gekleideten, bewaffneten Venatoren erblickte, ließ er eine große Flasche Champagner fallen und wurde ohnmächtig.
23
Das Pub
E inen Tag nach ihrem peinlichen Fehlschlag im Carlyle Hote l – den Mimi Oliver in die Schuhe geschoben hatte, um ihre Venatoren vor Kritik zu bewahre n – traf sie die Lennox-Brüder in ihrem Lieblingspub. Es war eine schwarze Nacht und in weniger als vierundzwanzig Stunden würde der Halbmondschatten am Himmel stehen. Es war fast schon zu spät. Sie wusste, dass die Jungs nicht gerade begeistert darüber sein würden, was sie ihnen zu sagen hatte, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie war jetzt die Vorsitzende, es war ihre Entscheidung. Sie hatte nicht die Absicht, Victoria aufzugeben. Sie
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