Jäger der Schatten
Angelegenheiten der Gemeinschaft. Keiner von ihnen hatte jemals als Ratsmitglied oder Wächter gedient. Sie waren apolitisch eingestellt und würden nicht mal in der Lage sein, gegen einen Silver Blood zu kämpfen, der ihr Leben bedrohte. Wenn sie einst Krieger Gottes gewesen waren, dann waren sie jetzt nur noch amerikanische Banker. Das Einzige, was sie interessierte, war der Aktienmarkt.
»Babe, bist du immer noch da oben?«, rief Bryce.
»Ich bin in einer Sekunde bei dir, Süßer!«, rief sie zurück. Die Rolle der Freundin hatte sie noch nie gespielt, zumindest nicht für einen Auftrag, obwohl sie natürlich schon Freunde gehabt hatt e – so wie jeder heutzutage. Es war schrecklich modern geworden, mit dem ewigen Bund zu spielen, mit dem Schicksal zu flirten. Die ältere Generation war bestürzt darüber, wie zwanglos die jüngste Generation der Vampire mit ihren himmlischen Pflichten umging. Sie hatten gesehen, was mit Jack Force passiert wa r – eine wahre Schande. Was für eine Verschwendung. Sowie er nach New York zurückkäme, würde er vor Gericht gestellt und zum Verbrennen verurteilt werden. Wenn die Gemeinschaft dann noch existierte. Andererseits hatte Demin keinen Zweifel daran, dass Mimi Jack auch auf eigene Faust zur Strecke bringen würde, ohne einen Prozess.
Demin hatte immer darauf geachtet, sich nicht zu sehr auf einen Jungen einzulassen und Schluss zu machen, bevor es ernst wurde. Sie wusste genauso gut wie jeder andere, dass das Spiel vorbei war, sobald man seinen Seelenverwandten, seinen Partner für den ewigen Bund, gefunden und sich einander offenbart hatte.
Was Bryce betraf, hatte sich seine unsterbliche Vergangenheit ebenfalls als sauber herausgestellt, obwohl er ein Dunkler Engel war. Dennoch hatte sie bemerkt, dass sein Affectus verdunkelt war, ein trübes Weiß, was darauf hindeutete, dass er etwas versteckte. Ob das mit Victorias Mord zu tun hatte, konnte Demin bis jetzt noch nicht sagen. Sie musste einen Weg finden, ihm noch näherzukommen, sodass sie seine Erinnerungen lesen und herausfinden konnte, was er im Schatten verborgen hielt. Sie hetzte sich nicht gerne, doch durch die täglichen Berichte, die Mimi von ihr forderte, war Demin gezwungen, sich zu beeilen.
Die Aufzeichnungen von Jamie Kips Apartment in der Gedankenwelt hatten die Augenzeugenberichte bestätigt. Victoria hatte Evan auf der Couch zurückgelassen und gegen Ende der Party Zeit mit Froggy und Bryce verbracht. Es gab keine Anzeichen, die auf einen Übergriff oder eine Entführung hindeuteten. Wenn Victoria gegen ihren Willen mitgenommen worden wäre, hätte Demin das gespürt. Nein, Victoria hatte die Party mit einem vermeintlichen Freund verlassen. War es Bryce gewesen? War es das, was er versteckte? Hatten seine Neigungen als Dunkler Engel die Oberhand gewonnen? Sie wollte nicht voreingenommen sein, aber das war schwer, solange es keine andere Erklärung gab.
Demin vergewisserte sich, dass das Zimmer wieder in seinem ursprünglichen Zustand war, und lief die Treppe hinunter. Sie fand Bryce und seine Freunde ausgestreckt auf den Sofas im dunklen Familienzimmer der Kernochans. Wie bei vielen reichen New Yorkern besaß ihr Haus Museumscharakter. Überall hingen und standen unbezahlbare Kunstgegenstände und antike Lieblingsstücke herum, die Designer ausgewählt hatten. Doch diese schönen Zimmer wurden nie benutzt. Denn die Designer ließen immer einen fensterlosen Raum an der Rückseite des Hauses übrig und richteten ihn mit bequemen Sofas und einem riesigen Fernseher ein, was dazu führte, dass sich neunzig Prozent des Lebens in den Stadthäusern der Blue Bloods in einem Raum abspielte. Der Rest der geräumigen Apartments blieb unbenutzt und war immer für eine Großaufnahme in einem der Hochglanzmagazine bereit, doch so ein Fototermin würde nie zugelassen werden. Die Elite der Vampire hielt sich zurück. Es war besser, wenn die Massen keinen Wind von ihrem privilegierten Leben bekamen, als sich den Kopf abhacken zu lassen. Auch wenn Marie Antoinette überlebt hatt e – sie verbrachte ihren derzeitigen Zyklus in der Europäischen Vampirgemeinschaft als einer der berühmtesten und anspruchsvollsten Filmstars der Wel t –, hatten die Blue Bloods ihre Lektion gelernt.
»Wir wollen zu Rufus nach Greenwich. Er hat ein paar Leute übers Wochenende eingeladen«, sagte Bryce. »Der Helikopter holt uns in einer Stunde ab. Wir werden dort übernachten. Bist du dabei?«
Eine Übernachtung, vierundzwanzig Stunden
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