Jäger der Schatten
offensichtlich.
»Victoria war unser erstes Kind. Wir sind vorher noch nie gefragt worden, einen neuen Geist bei uns aufzunehmen. Als unsere Namen im Haus der Geschichte genannt wurden, haben wir uns wahnsinnig gefreut. Victoria war ein herzensgutes Kind. Sie hatte immer viele Freunde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand ihr etwas antun konnte, insbesondere jemand, der sie kannte.«
»Wie sieht es in einem ihrer früheren Zyklen aus? Gab es etwas in ihrer Vergangenheit, was au f … Missgunst hindeuten könnte? Eine Schwäche? Irgendetwas?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
Demin packte ihr Notepad aus. »Wann war ihre letzte Wiedergeburt? Hat sie Ihnen das gesagt?«
»Lass mich nachdenken. Ich glaube, als die Verwandlung begann und Victorias Erinnerungen zurückkehrten, erwähnte sie etwas von einem letzten Zyklus in Florenz, irgendwann im fünfzehnten Jahrhundert oder so. Sie erinnerte sich daran, in Michelangelos Atelier gewesen zu sein. Das Haus der Geschichte müsste ihre Akte haben. Manchmal sind die Erinnerungen des Blutes in ihrem Alter noch nicht ganz zuverlässig.«
»Vielen Dank, Sie waren eine große Hilfe.«
»Nein, ich danke dir. Der Ältestenrat lässt uns über das alles im Dunkeln, aber wir sind sehr froh, dass jemand deines Kalibers den Fall übernommen hat.« Gertrude Taylor erhob sich vom Tisch und gab Demin die Hand. In ihren Augen schimmerten Tränen. Für einen Moment sah sie nicht wie eine einschüchternde Dame der Gesellschaft oder ein gefallener Engel aus, sondern wie eine Mutter, die um ihre Tochter trauerte.
Ein paar Stunden später meldete sich endlich Stuart Rhodes’ Mutter per Telefon. Die Rhodes’ waren Anthropologen und zurzeit bei einer Ausgrabung in Ägypten. Wie aus Stuarts Akte hervorging, hatte der Junge sich praktisch allein großgezogen. Als die Verwandlung eingesetzt hatte, war er kaum darüber informiert gewesen.
Amelia Rhodes schien nicht besonders beunruhigt über das Verschwinden ihres Sohnes zu sein. »Klingt, als wäre das irgendein Streich, oder?«, fragte sie. »Ich habe erst vor ein paar Tagen mit Stuart gesprochen. Er wollte zu irgendeiner Party und war deswegen sehr aufgeregt. Er wird nicht oft eingeladen.«
»Es ist kein Streich, Madam. Die Vorsitzende hat mir die Erlaubnis erteilt, Ihnen die Wahrheit zu sagen: dass Ihrem Sohn das gleiche Schicksal droht wie einer anderen Schülerin an der Duchesne. Sie wurde ausgelöscht.« Demin erzählte ihr die blutigen Details. »Stuart schwebt in ernster Gefahr.«
»Nun, was sollen wir tun? Wir wurden nicht danach gefragt.«
»Sie haben das Haus der Geschichte nicht um eine Zyklus-Geburt gebeten?«
»Das war schon vor langer Zeit. In meinem früheren Leben dachte ich, ich sollte einmal die Erfahrung machen, eine Mutter zu sein. Als sie mich dann auswählten, war ich von dieser Idee nur noch gelangweilt.«
»Wissen Sie, ob er schon irgendeine Erinnerung an seine vergangenen Leben hatte? Wann sein letzter Zyklus war?«
»Er hat das mal erwähnt, aber ich habe es mir nicht gemerkt. Irgendwo in Europa vielleicht? Tut mir leid. Du wirst ihn finden, oder? Bevor sie ihn verbrennen wie dieses arme Mädchen? Ich habe mich an den Jungen gewöhnt. Durch unsere Arbeit sehen sein Vater und ich ihn nicht sehr oft, aber wir vermissen ihn.«
37
Das Haus der Geschichte
A n diesem Abend studierte Demin die Akten des Falles noch einmal und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf alle Notizen, die mit den unterschwelligen Botschaften zusammenhingen, die die Venatoren in dem ersten Video gefunden hatten. Anfangs hatte sie die Fotos für eine falsche Fährt e – ein Ablenkungsmanöve r – gehalten, aber jetzt warf sie einen zweiten Blick darauf. Der Leiter des Archivs glaubte, sie hätten mit den drei Bildern einen Code geknackt: Luzifers Zeichen, das Lamm, das für die Menschheit stand, und das Symbol für den Bund würden darauf hindeuten, dass der Morgenstern gemeinsame Sache mit den Red Bloods machte. Wenn das stimmte, müsste derjenige, der das Video aufgezeichnet und die Geiseln genommen hatte, ein Teil dieser Verbindung sein. Ein Mensch im Dienste der Croatan? Das war so abwegig, dass Demin dies völlig ignoriert hatte. Daran zu glauben, dass dies wahr sein könnte, beunruhigte die sonst so unerschütterliche Venatorin.
Vor Sonnenaufgang schlich sie sich in die Duchesne, um die letzten Unterlagen und ihre Glücksschildkröte aus Jade aus ihrem Spind zu hole n – es war ein alberner Aberglaube, aber sie
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