Jäger der Schatten
wollte keinen Todeslauf ohne sie unternehmen. Ihre Zwillingsschwester hatte ihr die winzige Figur auf einem Markt in Hongkong gekauft und Demin hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, das kleine Tier überallhin mitzunehmen. Sie wollte schnell in die Schule, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen oder Fragen über sich ergehen lassen zu müssen. In den frühen Morgenstunden war das Gebäude bis auf die Portiers leer. Deshalb war sie sehr überrascht, auf Paul Rayburn zu stoßen, der mit einem Wagen voll Bücher aus der Bibliothek in der dritten Etage kam.
»Paul, hallo«, begrüßte sie ihn.
»Oh, hallo«, erwiderte er. Sein Affectus nahm in ihrer Gegenwart wieder eine orange Färbung an.
»Was machst du hier?«
»Ich arbeite als Hilfskraft in der Bibliothek, um ein bisschen Geld zu verdienen«, sagte Paul und klimperte mit den Schlüsseln. »Ich versuche, meine Arbeit immer vor Unterrichtsbeginn zu erledigen. Das ist besser, als länger bleiben zu müssen.«
Er sah verschlafen und müde aus. Demin war ergriffen, wie viel Anstrengung es ihn kosten musste, Schüler an der Duchesne zu sein. Es war nicht leicht, zwischen all den Reichen arm zu sein.
Sie spürte wieder das starke Verlangen nach ihm, doch sein schüchternes Lächeln rief auch eine andere Reaktion hervor, eine, die noch tiefer ging als der einfache Impuls, von seinem Blut zu trinken.
»Es ist noch fast Nacht«, sagte sie, während sie die Ordner aus dem Archiv in ihrer Tasche verstaute. Demin merkte, dass ihr Herz ein wenig schmerzte, weil sie wusste, dass sie ihn nach diesem Tag nie wiedersehen würde. Sobald sie Stuart gerettet hatt e – was ihr sicher gelingen würd e –, wäre ihr Auftrag erledigt und sie würde das Land verlassen.
Das war schade, denn sie empfand für Paul eine seltsame Mischung aus Verlangen und Zuneigung. Dieses Gefühl machte ihr aber auch Angst, denn Gefühle lenkten einen ab, trübten das Urteilsvermögen. Die besten Venatoren waren gänzlich frei von Emotionen und Demin strebte danach, zu den besten zu gehören.
»Na ja.« Er zuckte die Schultern. »Ich bin daran gewöhnt. Und was führt dich so früh hierher?«
»Ehrlich gesagt, ich konnte nicht schlafen«, sagte sie.
»Vielleicht können wir uns später wiedertreffen? Wenn wir beide richtig wach sind?«, schlug er vor.
Sie wollte schon den Kopf schütteln, doch dann entschied sie sich um. Warum sollte sie sich nicht mit ihm treffen und ihm dabei auf die nette Art klarmachen, dass nichts aus ihnen werden würde? »Ja, gern. Wie wäre es morgen zur gleichen Zeit? Ein Frühstück zum Sonnenaufgang?«
Paul schenkte ihr ein umwerfendes Lächeln, das Demin augenblicklich vergessen ließ, warum sie sich mit ihm verabredet hatte.
Erst als er gegangen war, merkte sie, dass sie ihn nicht nach dem Gerücht über Victoria, Bryce und Piper gefragt hatte. Dabei musste sie doch unbedingt herausfinden, wo diese falsche Information herkam.
Das Haus der Geschichte lag in einer gesonderten Abteilung des Archivs im Stadtzentrum. Der Büroangestellte starrte die in Schwarz gekleidete Venatorin finster an, während er ihr einen vergilbten Papierstapel aushändigte.
»Die Vorsitzende hat also eine Vollmacht unterschrieben?«
»Hier ist sie«, antwortete Demin und reichte ihm eine Bescheinigung mit Mimis geschwungener Unterschrift. Die Vorsitzende hatte zugestimmt, die Akten ausnahmsweise für den Fall öffnen zu lassen.
»Das sind vertrauliche Informationen. Nichts, von dem irgendjemand etwas erfahren sollte«, brummte der Büroangestellte.
»Das verstehe ich. Deshalb habe ich die Vollmacht«, sagte Demin geduldig.
»Die vierte Kabine.«
»Vielen Dank.«
Demin setzte sich an den Schreibtisch und blätterte sich durch die Aufzeichnungen über Victoria Taylor und Stuart Rhodes. Innerhalb der Gemeinschaft war es streng verboten, einen Blick in die vergangenen Lebenszyklen zu werfen. Der Kodex der Vampire schrieb vor, dass jeder Vampir das Wissen über seine vergangenen Leben durch die Offenbarung des Blutes selbst erlangen musst e – nicht durch die Akten und Aufzeichnungen in einer Bibliothek. Obwohl die unsterblichen Leben seit Anbeginn der Zeit von den Archivschreibern dokumentiert wurden, sollte jeder sein Schicksal selbst ergründen und sich nicht darauf verlassen, die Vergangenheit auf maschinengeschriebenen Seiten ausgehändigt zu bekommen.
STUART RHODES Geburtsname: Hollis Stuart Cobden Rhodes Bekannte vergangene Leben: Piero d’Argento (Florenz)
VICTORIA TAYLOR
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