Jäger des verlorenen Schatzes
zehn Jahre schrumpften zusammen, die Zeit blätterte zurück, wie die Seiten eines Buches, und sie erinnerte sich, wie es damals gewesen war. Fünfzehnjahre war sie alt gewesen, und der Meinung, in den gutaussehenden jungen Archäologen verliebt zu sein, in den jungen Mann, vor dem ihr Vater sie gewarnt hatte. Sie hörte ihn noch sagen: ›Du trägst nur Blessuren davon, auch wenn du mit der Zeit darüber hinwegkommst.‹ Der Schmerz war echt gewesen, aber das andere hatte nicht gestimmt. Vielleicht entsprach es der Wahrheit, was sie immer behaupteten, die alten Waschweiber - vielleicht vergaß man den ersten Mann, die erste Liebe wirklich nie. Sie jedenfalls hatte nie das Köstliche daran vergessen, das Beben, das Gefühl, an der bloßen Erwartung der Küsse, der Umarmung zu sterben. Nichts hatte an diese unfaßbare Steigerung der Sinne herangereicht, an dieses Gefühl des Schwebens, als sei man körperlos, federleicht, ans Licht gehalten, durchsichtig.
Sie entschied, daß sie dumm war, wenn sie weinte, weil der große Archäologe durch die Tür hereinstolziert war.
Zum Teufel mit ihm, sagte sie sich vor. Jetzt ist er nur noch für das Geld gut.
Mit zusammengezogenen Brauen ging sie zur Theke. Sie zog die Kette über den Kopf und legte das Medaillon auf die Bartheke.
Sie griff nach dem Geld, das Indy ihr gegeben hatte, griff hinter die Bar und legte es in ein Kästchen aus Holz. Sie starrte immer noch auf das Medaillon, das im Schatten des ausgestopften Riesenvogels lag, als sie an der Tür ein Geräusch hörte. Sie fuhr herum und sah vier Männer hereinkommen. Im selben Augenblick wußte sie schon, daß es Ärger geben würde, und daß der Ärger dem guten alten Indiana Jones auf dem Fuß folgte. In was hat er mich da bloß hineingezogen? dachte sie. »Wir haben geschlossen, tut mir leid«, sagte sie. Der Mann mit dem Regenmantel, ein Gesicht wie ein offenes Rasiermesser, lächelte.
»Wir wollen nichts trinken«, erwiderte er. Er sprach mit starkem deutschen Akzent.
»Oh.« Und sie sah den Begleitern des Rasiermessers, dem Nepalesen und dem Mongolen (mein Gott, er hat eine Maschinenpistole, dachte sie) zu, als sie herumschnüffelten. Sie dachte an das Medaillon, das auf der Theke lag. Der Mann mit der Augenklappe ging nah daran vorbei. »Was wollen Sie?« fragte sie.
»Genau dasselbe, was Ihr Freund Indiana Jones will«, gab der Deutsche zurück. »Ich bin sicher, daß er davon gesprochen hat.«
»Nein, tut mir leid.«
»Ah«, sagte der Mann. »Dann hat er es schon an sich gebracht?«
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie.
Der Mann setzte sich und schlug seinen Regenmantel auseinander.
»Verzeihen Sie, daß ich mich nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Toht. Arnold Toht. Jones hat nach einem bestimmten Medaillon gefragt, nicht?«
»Vielleicht...« Sie dachte an die Schußwaffe auf dem Wandbrett hinter dem ausgestopften Raben und fragte sich, wie schnell sie danach würde greifen können.
»Bitte, kommen Sie mir nicht damit«, sagte Toht.
»Also gut. Er kommt morgen wieder. Warum kommen Sie da nicht auch zurück, und wir halten eine Versteigerung ab, wenn Sie so daran interessiert sind?«
Toht schüttelte den Kopf. »Leider geht das nicht. Ich muß den Gegenstand heute noch haben, Fräulein Ravenwood.« Er stand auf, blickte ins Feuer, bückte sich und zog den Schürhaken aus der Glut.
Marion täuschte ein Gähnen vor.
»Ich habe ihn nicht. Kommen Sie morgen wieder. Ich bin müde.«
»Daß Sie müde sind, tut mir leid. Indes...« Er machte eine Kopfbewegung. Der Mongole packte Marion von hinten und drehte ihr die Arme auf den Rücken, während Toht den rotglühenden Schürhaken aus dem Feuer zog und auf sie zukam.
»Ich glaube, ich kann Ihren Standpunkt verstehen«, sagte sie. »Mit mir kann man vernünftig reden -«
»Gewiß, gewiß.« Toht seufzte, als sei ihm Gewaltanwendung zuwider, trat auf sie zu und hielt ihr den Schürhaken vor das Gesicht. Sie spürte die Hitze auf der Haut. Sie drehte ihr Gesicht zur Seite und wehrte sich gegen den Griff des Mongolen, aber er war zu stark für sie.
»Warten Sie, ich zeige Ihnen, wo das Ding ist.«
»Dazu hatten Sie vorher Gelegenheit, meine Liebe«, erwiderte Toht.
Ein Sadist reinsten Wassers, dachte sie. Auf das Medaillon kommt es ihm nur nebenbei an, er will sehen, wie das rotglühende Eisen mein Gesicht verbrennt. Sie wehrte sich heftig, aber es war nutzlos. Also gut, dachte sie, du hast alles andere verloren, dann kommt es auf dein Aussehen
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