Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
Zelle. »Es tut mir sehr leid, Herr Holzner.«
Holzner starrte auf die Stelle, an der der Fernseher gestanden hatte. »Schau dir die Scheißmexikanerzwerge an«, sagte er.
10
Im Regen nach St. Georgen, im Regen warten. Zwei Semmeln auf dem Beifahrersitz, das Elend mit den winzigen Symbolen unter den Leuchtdioden. Ende eines Arbeitstages.
Während sie Ben Liebermann in dem hellerleuchteten Wachhäuschen beobachtete, kam ihr das Gespräch mit Josepha Ettinger in den Sinn. Irgendetwas aus diesem Gespräch hatte sich in ihrem Unterbewusstsein verhakt. Irgendetwas war angedeutet, aber nicht ausgesprochen worden.
Was hatte sie übersehen?
Sie kam nicht darauf.
Ben Liebermann trank aus einer Flasche, schlug eine Zeitung auf, blätterte darin. Seltsam, dass plötzlich ein Mensch da war, den man nach ein paar Stunden schon vermisste.
Sie schloss die Augen. Die Mauer mit dem Stacheldraht, das zweiflügelige eiserne Tor mit dem Wappen. Der Hof mit den Bäumen, im Schatten das Haus. Ein roter Kombi.
Das Auto? Aber sie suchten einen blauen Jeep.
Dann die Hunde, die gebellt hatten, doch nicht zum Tor gelaufen waren. Die Stimme der Schwester. Josepha, die in fünf Metern Entfernung stehengeblieben war.
Kein Mitleid mit Eddie, mit Nadine. Nur Gleichgültigkeit und leiser Spott, als sie einen Moment lang erwogen hatte, über das Tor zu klettern.
Doch die Fragen hatte Josepha Ettinger beantwortet. Wir kamen vom Rhein und haben danach im Ort eingekauft. Also muss es Samstag gewesen sein.
Am Ende des Gesprächs Verbitterung, ein kurzer Moment der Wut. Und wenn Sie ihn hätten, blieben immer noch die anderen. Sie wissen doch nicht einmal, wo Sie suchen müssen, richtig? Wen Sie suchen müssen.
Einen Entführer, Vergewaltiger, Mörder, Josepha. Bedeutet das nichts? Gar nichts?
Eine alte Frau ohne Mitgefühl. Aber sie spendete den Zisterzienserinnen Geld.
Die Ettingers waren im KZ gewesen, hatte Thomas Ilic gesagt. Sie hatten nicht kollaboriert, hatten sich Forderungen der Nazis verweigert. Hatte Josepha Ettinger das Mitgefühl im KZ verloren?
Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, Thomas Ilic anzurufen. In seinen Unterlagen musste sich mehr über die Schwestern finden. Sie ließ es. Kurz vor Mitternacht, und wenn jemand Ruhe brauchte, dann Thomas Ilic.
Doch der letzte Satz Josepha Ettingers ging ihr nicht aus dem Kopf. Und wenn Sie ihn hätten, blieben immer noch die anderen.
Welche anderen? Die von damals?
Oder die von heute?
Als sie vor Ben Liebermann stand, dachte sie nicht mehr an das Gespräch mit Josepha Ettinger.
Die Fältchen um seine Augen hatten sich geweitet. Noch nie, dachte sie, hatte ein Mann sie mit so viel Freude im Blick angesehen.
Ben Liebermann hatte Hunger.
Sie ließ ihn essen, kauen, schlucken, sagte nichts, sah einfach zu, das war schon interessant. Da wurde kaum gekaut und so schnell geschluckt, dass die Geschmacksnerven auf seiner Zunge eigentlich gar nicht mitbekommen konnten, was da Gutes an ihnen vorbeirauschte. Aber er schaute vergnügt drein und aß mit Hingabe.
Getrunken wurde Wasser, das hatte sie sich ausbedungen. Wenn du knutschen willst, Ben, dann vier Stunden vorher keinen Alkohol. Bier ist doch kein Alkohol, hatte er entgegnet und in gespieltem Entsetzen die Brauen gehoben. Deine Entscheidung, hatte sie gesagt. Bis jetzt hatte er sich immer richtig entschieden.
Als der letzte Semmelkrümel verschlungen war, sagte sie: »Du musst diesen Job nicht machen, Ben.«
Er stand auf, nahm die Jacke. »Irgendwas muss ich machen.«
»Aber nicht so einen Job.«
»So schlecht ist er nicht. Viel Zeit zum Nachdenken.«
»Vielleicht ist das Nachdenken schlecht.«
Er lachte leise. »Vielleicht.«
Sie begannen mit der ersten Runde um den Parkplatz, der heute noch leerer war als am Tag zuvor. Ein einziges Auto stand in der Dunkelheit. Sie dachte, dass sie dieses Auto gestern auch schon hier gesehen hatte.
Niemand war gekommen, niemand fortgefahren. Niemand, mit dem er hätte sprechen können. Wie hielt man das aus?
»Mir ist es lieber, wenn ich keine Zeit zum Nachdenken hab«, sagte sie.
»Weil dann die Schatten auftauchen?«
Sie nickte. Die Toten, die Mörder. Was sie falsch gemacht hatte.
»Antun Lonc?ar?«
»Auch.«
»Ich hab eher ein anderes Problem, wenn ich nachdenke«, sagte Ben Liebermann. »Ich stelle mir Fragen.«
»Und zwar?«
»Haben wir eine Perspektive? Wir beide?«
Sie blieb stehen. Solche Fragen. Sie nickte. »Fragen an dich oder an mich?«
»An
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