Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
danach im Ort eingekauft. Also muss es Samstag gewesen sein.« Zum ersten Mal hatte sich in das klare Hochdeutsch Josepha Ettingers ein Dialektbegriff geschlichen. Sie hatte »mr« gesagt für »wir«. Die Elsässerdeutschen sagten »mr«.
»Sie und Ihre Schwester.«
»Ja.«
Louise bemerkte, dass sie beide Hände ans Gestänge gelegt hatte. Wie lächerlich sie von dort, wo Josepha Ettinger stand, aussehen musste. Sie löste die Hände vom Tor. »Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Ein fremdes Auto, ein fremder Mensch?«
»Dass diese Welt von Tag zu Tag weniger meine Welt ist.«
»Deshalb der Stacheldraht? Deshalb lassen Sie alles verrotten?«
Sie hatte den Eindruck, dass Josepha Ettinger antworten wollte. Aber dann sagte sie nichts.
Louise seufzte. »Und Ihre Schwester?«
»Würde Ihnen dasselbe sagen wie ich. Wir haben nichts gesehen. Was außerhalb dieser Mauern geschieht, interessiert uns seit langer Zeit nicht mehr.«
»Ein toter Junge, ein misshandeltes Mädchen.«
Josepha Ettinger schwieg.
»Wenn Sie Ihre Mauern mal wieder verlassen, nehmen Sie die Hunde mit. Wir haben den Täter noch nicht.«
»Und wenn Sie ihn hätten, blieben immer noch die anderen.« Josepha Ettinger starrte sie an. »Sie wissen doch nicht einmal, wo Sie suchen müssen, richtig? Wen Sie suchen müssen.«
Louise trat einen Schritt zurück. »Schon möglich. Aber eines weiß ich – weder Eddie Holzner noch das Mädchen können etwas für das, was man Ihnen angetan hat.«
Sie schob eine gefaltete Visitenkarte oberhalb des Schlosses zwischen die Torflügel, wandte sich ab, immerhin, das letzte Wort, das linderte die Wut und das Gefühl der Demütigung.
Ausgesperrt.
Doch vielleicht war das nicht einmal das Schlimmste: Josepha Ettinger hatte sie mit den Toten und den Tätern der Welt außerhalb ihrer Mauern alleingelassen.
Im Auto sah sie noch einmal zum Tor hinüber. Ein weißer Fleck am Gestänge, die Karte steckte noch darin.
9
Der Himmel hatte sich zugezogen, Regenwolken hingen über der Stadt. Neunzehn Uhr, die Zeit des Wetterwechsels in diesen Sommertagen. Sie stand mit Hugo Chervel, Rolf Bermann und Andreas »Andi« Bruckner in Bermanns Büro und wartete darauf, dass Holzner mit seinem Anwalt zur ersten Vernehmung gebracht wurde. Niemand sprach, alle waren müde, hingen ihren Gedanken nach. Neunzehn Uhr, da klingelte auf einem Sperrholznachttisch in einem kahlen Appartement im Stühlinger ein Billigwecker aus Sarajewo. Sie sah Ben Liebermann auf seinem Bett sitzen, in die heraufziehende Dämmerung starren. Sie wusste nie, woran er dachte. Wenn sie ihn fragte, erzählte er Geschichten aus der Vergangenheit, die meistens so begannen: Damals in Tel Aviv. Damals in Sarajewo. Einer, der von der Vergangenheit nicht loskam, weshalb auch immer. Meistens ging es nur um Banalitäten, um Eindrücke und Menschen, die ihm in Erinnerung geblieben waren. Ein Eisverkäufer im strömenden Regen, ein Pferdewagen mit Zigeunern im Berufsverkehr. Sie spürte, dass er gern erzählte. Ganz so, als freute es ihn, dass mal jemand zuhörte.
Sie drehte sich zu Bruckner. »Wo ist Meirich?«
»Beim Arzt, kommt später noch.« Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Chervel zusammenzuckte. Aggressive Stimme, aggressiver Blick, das Kinn vorgeschoben, die Nackenmuskeln angespannt. Kein Schreihals, Andi Bruckner, eher ein Kampfhund, fand sie. Ein kleiner, lauernder, schnurrbärtiger Kampfhund. Ein bisschen verschlagen, irgendwie.
Aber er war schnell und brachte Spuren.
»Les Allemands« , flüsterte Chervel ihr lächelnd zu.
»Das hab ich verstanden«, sagte Bermann.
Kurz darauf erklangen Schritte auf dem Gang, die Tür öffnete sich, Kollegen brachten Holzner und dessen Anwalt.
»Vier Bullen und ein Rechtsverdreher«, raunzte Holzner, »und die Spiele kann ich auch nicht sehen, was für ein Scheiß abend.«
Der Anwalt grinste, reichte allen die Hand, Richard C. Müller, ein braungebrannter schnöseliger Mittvierziger in einem schlechtsitzenden cremefarbenen Anzug und gelben Turnschuhen, die Zähne gebleicht, die Haare gegelt. »Mandanten mit Humor, das sind mir die liebsten«, sagte er.
Chervel schüttelte verächtlich den Kopf.
»Das hab ich gesehen«, sagte Bermann.
»Ich auch«, sagte Müller und grinste.
Wortlos wies Bermann auf zwei Stühle.
Holzner trug Jeans und ein hellblaues T-Shirt, war rasiert. Jemand musste nach Grezhausen gefahren sein und ihm ein paar Sachen gebracht haben. »Wann komm ich raus?«, fragte er und ließ sich auf
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