Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
drinnen. »Scheiß die Wand an«, murmelte er.
Das war wohl, dachte sie, Breisacherisch für: Alles gut, Bonì, alles wieder gut.
19
Der Tuniberg von der anderen Seite, links der Rhein, den sie bei Breisach überqueren würde. Ein unerklärliches Heimweh überkam sie bei diesem Gedanken, ohne dass sie hätte sagen können, wonach. Heimweh nach Frankreich und ihrer Kindheit, irgendwie, nach ihrer Mutter und ihrem Vater, vielleicht auch ganz allgemein nach einem Ort, an dem sie zu Hause sein konnte. Alles schien aus dem Lot zu geraten, seit sie Ben Liebermann kannte und wieder ein echtes Privatleben hatte – die Angst vorhin im Haus der Ettingers, klobige Glücksgefühle im Magen, jetzt ein lästiges Heimweh nach einem undefinierbaren Irgendwas.
Aber das stimmte nicht ganz. Im Lot war ihr Leben nie wirklich gewesen, und die Frage nach dem Zuhause war schon im vergangenen Oktober aufgetaucht. Ben Liebermann war vielleicht nur eine Art Antwort darauf, natürlich nicht die ganze Antwort, nur ein Teil, wie die neue Wohnung, das neue Auto. Und das alles wiederum – die neue Wohnung, das neue Auto, der neue Mann – war vielleicht nur der unbeholfene Versuch, dem Schicksal aller Menschen in ihrem Alter zu entgehen: der Frage, wie und wo sie die nächsten Jahrzehnte verbringen wollte.
Dann konzentrierte sie sich wieder auf andere Fragen, andere Menschen. Der Polizist, der telefoniert hatte. Nadine, die nun womöglich nicht mehr in Sicherheit war. Der Mann, der womöglich nach Colmar unterwegs und vielleicht längst dort eingetroffen war.
Chervel, der helfen musste.
Hugo Chervel saß in seinem Büro der Antenne de la Police Judiciaire in Mulhouse und tat viele Dinge gleichzeitig – sie hörte ihn abwechselnd kauen, trinken, gähnen, an einer Zigarette ziehen, Kollegen Worte hinwerfen. Ein kleiner Umtrunk. Er war fünfundvierzig geworden.
»Mein Beileid.«
Chervel lachte bitter. »Ein Mensch, der mich versteht. Ich werde fünfzig … Was kann ich für dich tun?«
Sie erzählte von Colmar, den Ettingers, Nadine. Von dem Mann, der vielleicht unterwegs war.
»Bon« , sagte Chervel, nachdem sie geendet hatte. »Zwei Leute müssen genügen. Alle anderen sind betrunken.«
»Zwei sind besser als nichts.«
»Keine Deutschen, ma chère , sondern Franzosen. Also sehr viel besser als nichts.«
Sie lachte.
»Attends« , sagte Chervel und erteilte an einem zweiten Telefon Anweisungen. »Sind unterwegs.«
»Ich bin beeindruckt.«
»Das ist der Einfluss amerikanischer Filme auf die französische Kripo. Alles geht in den Filmen sehr schnell. Zack, zack, zack. Wir wollen noch schneller sein. Wir bewundern die Amerikaner.«
»Nicht dass deine Leute eingreifen oder schießen.«
»Aber nein. Im Herzen sind wir Japaner. Zen, du erinnerst dich? Wir sitzen und warten.«
»Aber das sehr schnell?«
»Ich sehe, du verstehst.«
Sie hatte Breisach erreicht, fuhr auf die Rheinbrücke. Das Heimweh war wieder da, stärker als zuvor. Französisch sprechen mit Chervel, in der Ferne die Vogesen, mit Gérardmer und den französischen Onkels und Tanten. Ein Leben, das lange vorbei war. Sie fragte sich, warum dieses Leben in manchen Momenten so wichtig war. Alles, was vergangen war.
»Wie erkenne ich sie?«
Chervel trank, sog Rauch ein, sagte: »Sie tragen Taucherbrillen.«
»Richard Bohringer in Diva beim Baguette-Schmieren.«
» Mon Dieu , du bist ein Traum.« Sie hörte ihn lachen. »Sie werden dich erkennen, Louise. Ganz Frankreich kennt dich. Du bist die Jeanne d’Arc der französischen Kripo.«
Na das, dachte sie, war doch mal was.
»Endlich rufen Sie an!«, sagte Claus Rohmueller.
Er ging mit Cesare an der Dreisam entlang, wie so oft in diesen beiden Tagen, seit er aus Bonn gekommen war, und wartete auf Nachrichten, Anrufe, auf irgendetwas Neues. Ein einziger langer Spaziergang an der Dreisam, diese zwei Tage, hinauf, hinunter, inzwischen kannten sie auf beiden Ufern jeden Baum, jeden Stein, sie kannten jeden Hund und Hundehalter, waren Stammgäste im Dreisam-Ufercafé.
Er lachte unruhig, sprach schon weiter, doch sie unterbrach ihn. »Ich habe vielleicht gute Nachrichten.«
Ein Räuspern, dann Rohmuellers belegte Stimme: »Sie lebt …«
»Ich glaube, dass sie lebt, ja. Aber …«
»Wissen Sie, wo sie ist?«
»Ich habe eine Vermutung. Aber es ist kompliziert.«
»Kompliziert?«
»Der Fall ist kompliziert. Komplizierter, als wir dachten.«
»Ich … verstehe nicht.«
»Erst mal schneuzen, Herr Rohmueller.«
Es
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