Jäger: Thriller (Ein Marina-Esposito-Thriller) (German Edition)
Namen gelebt. Es war nicht ihr Geburtsname gewesen, sondern einer, den sie sich für ihre erste falsche Identität selber ausgesucht hatte. Ihrer Familie in Oldham hatte sie bei erstbester Gelegenheit den Rücken gekehrt. Sie war fest entschlossen gewesen, etwas aus ihrem Leben zu machen. Sehr weit war sie nicht gekommen, nur bis zu einer Escort-Agentur in Manchester City.
Michael war auf Geschäftsreise gewesen und hatte ein bisschen Spaß haben wollen. Was er eben unter Spaß verstand. Er hatte in ihrer Escort-Agentur angerufen und seine Wünsche genau beschrieben. Wie das Mädchen aussehen sollte, welche Verletzungen er ihr zufügen würde. Wie viel er dafür zu zahlen bereit wäre. Man hatte seine Anfrage abgelehnt, woraufhin er mehr Geld geboten hatte. Sehr viel mehr. Also hatten sie unter den Mädchen herumgefragt, ob eines bereit wäre, ihm seine Wünsche zu erfüllen.
Sie hatte sich bereit erklärt. Er verlangte nichts, was sie nicht schon früher gemacht hatte. Beziehungsweise mit sich hatte machen lassen. Der Unterschied war nur, dass sie diesmal Geld dafür bekommen würde. Einen Haufen Geld. Das würde sie über die Schmerzen hinwegtrösten.
Also hatte sie wenig später in der von ihm gewünschten Aufmachung vor seiner Zimmertür gestanden. Und es hatte zwischen ihnen gefunkt. Das hatte sie gleich beim allerersten Blick gespürt. Bei der allerersten Berührung. Erregung durchfuhr ihren Körper wie ein Blitz. Er hatte ebenso empfunden. Das hatte man ihm angesehen.
Sie war die ganze Nacht geblieben. Er hatte genau das mit ihr gemacht, was er angekündigt hatte. Und sie hatte gar nicht genug davon bekommen können. Sie hätte es sogar umsonst gemacht, was sie ihm hinterher auch sagte.
»So was darfst du niemals sagen«, hatte er sie zurechtgewiesen. »Verkauf dich niemals unter Wert.«
So hatte es angefangen. Von da ab buchte er sie jedes Mal, wenn er geschäftlich in Manchester zu tun hatte. Und er schien sehr oft geschäftlich in Manchester zu tun zu haben. Manchmal kam er sogar nur in die Stadt, weil er sich mit ihr treffen wollte. Sie redeten. Lernten einander besser kennen. Er war reich, aber unglücklich. Einsam. Seine Lebensgefährtin – so nannte er sie immer: seine Lebensgefährtin – sei krank. Seelisch und körperlich. Das belaste ihn schwer. Er besaß alles, was man sich nur wünschen konnte, und doch war es nicht genug.
Sie hörte solche Geschichten nicht zum ersten Mal. Reiche Geschäftsmänner, die behaupteten, von ihren Ehefrauen und dem Familienleben erdrückt zu werden. Die sich nach dem Kitzel sehnten, den nur sie ihnen bieten konnte. Zunächst dachte sie, er wäre bloß einer von vielen.
Sie irrte sich.
Denn eines Tages machte er ihr ein Angebot.
»Bist du glücklich mit deinem Leben?«
»Mir geht’s gut«, sagte sie. Es war nicht der erste Vorschlag dieser Art, den sie abgeblockt hatte. Für solche Fälle hatte sie immer eine Antwort parat. »Ich verdiene genug Geld, hab alle Freiheiten, bin unabhängig.«
»Nein«, sagte er. »Das meine ich nicht. Bist du glücklich mit dir, so wie du jetzt bist? Oder wärst du gerne jemand anders?«
Dann erklärte er ihr, was er sich ausgedacht hatte. Sie sollte mit ihm zusammenleben. Sich von ihm nach seinen Vorstellungen neu erschaffen lassen. Einen neuen Namen annehmen. Ein neues Gesicht bekommen. Einen neuen Körper. Sich in eine andere Person verwandeln.
»Warum suchst du dir nicht jemanden, der schon so aussieht, wie du es haben willst?«
»Weil ich dich will. Du bist perfekt. Innen. Jetzt muss nur noch das Äußere angepasst werden.«
Sie fand, dass das logisch klang.
»Du musst deine Freiheit nicht aufgeben«, fuhr er fort. »Nur wird es von jetzt an die Freiheit sein, zu machen, was ich dir sage.«
Sie hatte gelächelt. Und war einverstanden.
Und sie hatte sich in Dee Sloane verwandelt.
Es war ein langwieriger Prozess. Oft schmerzhaft. Doch das Ergebnis war alle Mühen wert. Natürlich stellte sie ihm Fragen: Wer war die echte Dee? Was war aus ihr geworden? Er gab ihr bereitwillig über alles Auskunft.
»Sie … Es gab einen Unfall. Mit einem Jagdgewehr. Ich habe für sie getan, was ich konnte. Habe versucht, sie zu retten, sie wiederherzustellen … Ich habe wirklich alles versucht.«
»Ist sie tot?«
»Sie ist … nicht mehr bei uns.«
Sie konnte sich denken, was das hieß.
Je mehr sie zu der Frau wurde, die er sich wünschte, desto mehr gab er preis. Dee sei seine Schwester gewesen, ob sie ein Problem damit
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