Jäger und Gejagte
rücksichtslos von ihm, sie zu vergessen. Zuerst muß er seine Frau besuchen. »Vielen Dank, meine Liebe.«
»Es ist mir ein Vergnügen, dir zu dienen, Meister«, erwidert Vorteria.
27
Es ist kompliziert«, sagt er.
Amy schüttelt den Kopf. »Das ist mir egal.«
»Ich muß wieder ein Mensch werden.«
Amy wartet und hört zu. Scotties Erklärungen fangen an und hören auf, verlieren sich in Schweigen, aber da ist immer noch mehr, das gesagt werden muß, und irgendwie macht er einfach weiter, findet die Worte und spricht sie aus, bis sie von ihm in einer Nacht mehr gehört hat als bis zum Tag seines Verschwindens.
Dann fallen ihr die Augen zu und wollen sich nicht mehr öffnen, obwohl sie sich bereits kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hat, und ungeachtet all ihrer Willenskraft, die sie ins Feld führt, und sie spürt, wie sie förmlich zusammensackt und einnickt. Als sie erwacht, liegt sie auf dem Sofa und ihr Kopf auf Scotties Schoß, und er betrachtet sie und sagt: »Ich muß gehen.«
»Bleib. Bitte.«
»Ich komme morgen zurück. Ich verspreche es.«
»Ich will dich nicht wieder verlieren.« Die Angst davor weckt sie vollends. Sie richtet sich auf und nimmt seine Hand, während ihr alles wieder einfällt, was er gesagt hat. Trotz all der Dinge, die er ihr erzählt hat, kommt es ihr so vor, als sei er erst ein paar Augenblicke bei ihr, und sie hat noch keine Zeit gehabt, irgend etwas von sich selbst zu erzählen.
»Scottie, ich lebe hier für mich allein und verdiene gutes Geld. Shell könnte kommen, mit den Kindern. Sie sind dir wichtig, und ich will sie sowieso kennenlernen. Ihr könntet alle hier bleiben. Ich habe reichlich Platz.«
»Ich muß meinen eigenen Weg gehen.«
»Aber...« Natürlich. Darum geht es. Darum ist es immer gegangen, und bis jetzt war sie einfach nicht reif genug, sich damit abzufinden. Was hat er gesagt? Der Weg des Schamanen ist schwer. Er muß tun, was er für richtig hält, und sie muß das akzeptieren! Sie muß! Sie sollte versuchen, ihn zu verstehen, nicht ihm sagen, was er tun soll. Sie muß der Tatsache ins Gesicht sehen, daß sie nicht weiß, was für ihn das beste ist. Sie kann es nicht wissen. Sie weiß kaum, wer er ist, was für ein Mann er geworden ist, Schamane und auch sonst. Wenn sie will, daß er eine Rolle in ihrem Leben spielt, muß sie aufhören, die ältere Schwester zu sein, und anfangen, einfach nur eine Frau zu sein, die reif genug ist, um ihren Bruder ohne Vorbedingungen zu lieben.
»Tut mir leid«, sagt sie, indem sie sich ein Lächeln abringt. »Du hast recht. Ich habe nur solche Angst, daß du weggehst...«
Ihr stockt der Atem.
Scottie nimmt ihre Hand.
»Ich kann gar nicht glauben, daß du wirklich wieder da bist.«
»Ich bin da.«
»Mom und Dad werden...«
»Sag es ihnen nicht.«
»Warum nicht?«
»Es ist noch zu früh. Ich brauche Zeit.«
Zeit, um sich einzugewöhnen, oder vielleicht auch, um ganz aus seinem Schneckenhaus herauszukommen. Vielleicht hat es mit seiner Magie zu tun. Vieles, das er gesagt hat, erweckt den Eindruck, als befinde er sich an einem Scheideweg, an einem Punkt der Entscheidung, der wichtiger ist, als sie sich vorstellen kann.
»Also gut«, sagt Amy. »Aber vergiß nicht, daß ich dich liebe und mir sehr viel aus dir mache. Schon immer. Auch, als ich deine Sachen gestohlen und weggeworfen habe. Ich werde alles tun, was ich kann, um dir zu helfen, falls du Hilfe brauchst. Wenn du irgend etwas willst. Irgend etwas. Das ist mein voller Emst.«
»Ich weiß.«
An der Tür umarmt sie ihn noch einmal und küßt ihn auf die Wange, und dann geht er durch den Flur zum Fahrstuhl, und sie zwingt sich zu einem Lächeln und einem Winken, als sei er nie richtig fort gewesen.
Sie sitzt in Unterwäsche auf dem Bett und reibt sich immer noch die Augen, als das erste graue Licht des neuen Tages durch die Vorhänge fällt und ihr Wecker klingelt. O Gott, nein...
Wie kann sie jetzt zur Arbeit gehen?
Und... wie könnte sie nicht?
28
In den Schatten des Morgengrauens rollt das Sicherheitsfahrzeug langsam die Allee entlang, die sich durch das Gelände des Wohnkomplexes windet. Bremslichter leuchten auf, doch dann fährt der Wagen weiter. Bandit beobachtet ihn aus den Büschen in der Nähe von Tower D. Er hat keinen Ausweis oder Passierschein, der ihm den Aufenthalt auf diesem Gelände gestatten würde. Waschbär braucht derartige Dinge nicht.
Er wendet den Kopf, um sich noch einmal nach Tower D umzudrehen, der sich hoch in
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