Jäger und Gejagte
den dunkelgrauen Himmel erstreckt, und für einen Augenblick wechselt er auf astrale Wahrnehmung. Der Zauber, den er wirkt, ist flüchtig. Er gewinnt einen kurzen Eindruck von seiner Schwester dort oben am Fenster in ihrem Turm. Sie scheint aufgeregt zu sein, glücklich und traurig, als lache und weine sie zugleich. Das hat sie praktisch die ganze Nacht getan. Es ist fast ein wenig beängstigend.
Als sie noch Kinder waren, ist Amy den geraden Weg gegangen. Sie war immer sehr beliebt. Ihre Schulnoten waren eins a. Sie wurde von Konzernen gesponsert, und bevor sie sechzehn Jahre alt war, erwartete sie bereits ein Platz an der Universität. Er hat es immer für unabänderlich gehalten, daß Amy sich in eine von vielen gesichtslosen Lohnsklaven auf klerikaler oder exekutiver Ebene verwandeln würde, in einen weiteren Pinkel wie ihre Eltern. Jetzt stellt er fest, daß sie als Mensch und Person absolut ganz und vollständig ist, so vollständig wie Shell. Es ist erstaunlich.
Die Art, wie sie redet, wie sie handelt... sie ist direkt zu ihm durchgedrungen, ohne es überhaupt zu versuchen, so sehr, daß er tief gerührt ist. Daß es schmerzt.
Daß er Dinge bedauert. Zum Beispiel, daß sie ihr Leben getrennt voneinander geführt haben.
Vielleicht kann sich das jetzt ändern.
Er muß so viel lernen.
Zwischen den Bäumen am Haupteingang des Wohnkomplexes findet er den Hyundai ActionScoot, den er sich ausgeborgt hat, und schiebt ihn auf die Straße. Der Roller fährt nicht sehr schnell, wird ihn aber viel schneller zu U-Bahn bringen, als er dorthin laufen könnte. Vorausgesetzt niemand bemerkt, daß der Roller fehlt.
Als er nach Hause kommt, findet er Shell schlafend auf einem Plastikstuhl hinter der Haustür vor. Er hat ihr gesagt, sie soll die Tür verriegeln, weil er vermutlich die ganze Nacht fort sein würde. Aber da sitzt sie nun und schläft, die Narcoject auf dem Schoß. Hat sie auf ihn gewartet? Er tätschelt ihre Schulter, und sie wird stöhnend wach und schlingt die Arme um seine Hüften. »Hast du deine Schwester gefunden?«
»Ja.«
»Also verliere ich dich jetzt?«
Ihn verlieren? »Warum solltest du mich verlieren?«
Shell sieht ihn mit Augen an, die ihm naß Vorkommen. »Sie ist ein Pinkel, richtig? Sie könnte dich aushalten. Sie muß haufenweise Geld haben.«
Bandit grübelt, dann seufzt er innerlich.
Die Leute reden immer über Geld, auch wenn Geld keine Rolle spielt, überhaupt keine Rolle. Es scheint so, als wäre das der Lauf der Dinge. Ein unausweichlicher Bestandteil der Natur.
Es ermüdet ihn.
29
Okay, Junge. Weiter geht's!«
Brian Gumey zwingt sich dazu, die Augen zu öffnen. Wie lange hat er geschlafen? Zwei, drei Stunden, sagt seine Armbanduhr. Er reibt sich über das Gesicht, fühlt, daß die Stoppeln auf Wangen und Kinn borstig geworden sind, und grunzt. Als er sich auf das Dreieinhalbfache seines bisherigen Gehalts eingelassen hat, dachte er sich schon, daß er sich das Geld würde verdienen müssen. Was er nicht gedacht hat, war, daß er vierundzwanzig Stunden und mehr in unterirdischen Tunnels verbringen würde. Er hat einfach nicht vorausgesehen, daß sie so tief in die Tunnels eindringen würden, daß Art ihm den Weg nach draußen zeigen muß.
Irgendwo über ihm ist Morgen. Wunderbar.
Er richtet sich auf, packt seine Sachen zusammen, macht sich fertig. Der Tunnel durchmißt über drei Meter und ist absolut rund und feucht, echt feucht. Alle paar Schritte sammeln sich Wasserrinnsale zu schmutzig aussehenden Pfützen. Die Luft riecht faulig.
All dem haftet ein Gefühl des Geisterhaften an. Vielleicht wird es durch den Wassergeist hervorgerufen, der hier immer unterwegs war. Brian fragt sich, ob er vielleicht Buddhist hätte werden sollen. Glauben Buddhisten nicht, daß alles eine Seele hat?
Vierzig oder fünfzig Meter voraus befindet sich eine Kreuzung, an der rechts und links ein Nebentunnel abzweigt. Weiter kann Brian nicht sehen. Sein Nightfighter-Visier zeigt ihm ein graues Bild des Tunnels, aber es gibt nicht viel Licht, welches das Visier verstärken könnte, und die einzigen Infrarotquellen von Bedeutung sind Art und er.
Sie sind beide auf Ragnarök vorbereitet und bis an die Zähne bewaffnet, Sturmgewehre, Maschinenpistolen, Handfeuerwaffen, Granaten, Leuchtkugeln, Messer, Körperpanzer, Helme, Visiere. Das würde Brian gar nicht so viel ausmachen, nicht bei dreieinhalbfachem Lohn, wenn er nur eine Ahnung hätte, womit sie es zu tun bekommen
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