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Jäger

Jäger

Titel: Jäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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übertrifft alles.«
    Wir stiegen in den sechzehnten und obersten Stock der
Anthrax-Zentrale hinauf. Dort stemmte Delbarco die Schulter gegen
eine Stahltür, die aussah wie die Hochsicherheitstür zu
einem Banktresor, wuchtete sie auf und winkte uns durch. Die
Hydraulik der Tür summte leise, als sie wieder zuschwang. Ehe
die Bolzen einrasten konnten, klemmte Delbarco einen Schraubenzieher
dazwischen.
    Jenseits der Tür entdeckten wir mindestens hundert
Stahlzylinder, etwa so groß wie uralte eiserne Lungen, die an
der gegenüberliegenden Wand fünf Reihen bildeten.
Viereckige Stützpfeiler trennten die Reihen voneinander ab. Im
Zentrum waren zwei kleine Labors oder Überwachungseinrichtungen
durch Glaswände vom übrigen Raum abgeteilt.
    Aus jedem der Stahlzylinder, die auf hohen Betonsockeln ruhten,
ragten zwei dünne Kupferrohre, nicht dicker als ein kleiner
Finger, und ein steifes, weißes Elektrokabel.
    »Wir werden Hilfe brauchen, um das hier zu begreifen.«
Delbarco blinzelte nervös. »Nicht, dass ich scharf darauf
wäre.«
    Ich griff nach einer stählernen Handleiste, erklomm ein paar
Betonstufen und blickte über den Rand des ersten Tanks zu meiner
Rechten. Ein langes, schmales Glasfenster gewährte den Blick ins
Innere: In einer rötlichen Brühe, die eher Gelee oder
Ketchup als Blut ähnelte, schwamm der nackte Körper eines
Mannes. Er war schlank, fast kahlköpfig, zwischen fünfzig
und sechzig Jahre alt und sah aus, als sei er in einen leichten, aber
unruhigen Schlaf gefallen. Seine Gesichtsmuskeln und Finger zuckten,
die Augen ruckten unter den Lidern hin und her. Kleine Wellen
kräuselten die Oberfläche der roten Flüssigkeit.
    Als oberhalb seines Kopfes etwas klickte, strahlte im Tank eine
silberblaue Lampe auf. Sie haben an alles gedacht, schoss mir durch
den Kopf. Ich wandte den Blick ab, weil vor meinen Augen Punkte
tanzten.
    Inzwischen drang das leise Summen elektrischer Anlagen durch die
Kammer. In sämtlichen Tanks waren Lichter angegangen, die
verschwommene blaue Schattengitter an die Decke warfen.
    Als sich meine Augen an die plötzliche Helligkeit
gewöhnt hatten, konnte ich den Mann viel deutlicher sehen.
Fasern lösten sich aus der roten Flüssigkeit und krochen
über seine Finger, die nackten Arme, das Gesicht und
hinterließen ölige Spuren auf der bleichen, unbehaarten
Haut.
    Mit einer Mischung aus Faszination und Angst betrachtete ich seine
Handrücken. Zwischen den Sehnen hatten sich tiefe Furchen
gebildet.
    Mit trockener Kehle und wackligen Knien stieg ich von dem
Betonsockel herab, raffte meinen ganzen Mut zusammen und ging zu den
vier nächsten Tanks hinüber. Vier weitere Männer, alle
nackt, zwei in fortgeschrittenem, zwei in mittlerem Alter oder
jünger, lagen in der gleichen roten Flüssigkeit, gefangen
in unruhigem Schlaf. Das silberne Licht ließ ihre Gesichter
fahl wirken.
    Ben klopfte gegen den fünften Tank und deutete auf ein
Messingschild, das mit einer Prägung versehen war. Nach einer
zwölfstelligen Nummer folgte ein Bindestrich oder
Trennungszeichen und dann eine Zahlenkombination, die
möglicherweise ein Datum war: 3/9/61.
    »Vielleicht haben sie ihn 1961 da drin versenkt«,
sinnierte Ben. »Wie Thunfisch, den man in der Dose
konserviert.«
    »Ein in sich geschlossenes System«, sagte ich und
bezweifelte im selben Augenblick, dass so etwas überhaupt
möglich war. Durch so enge Leitungen konnten nicht viele
Flüssigkeiten hinein- und Ausscheidungen herausgelangen.
Allenfalls frisches Wasser. Es gab keine Pumpen, keinen Sauerstoff.
Nur die Lichter. Nichts, das derart einfach war – wie immer das
ökologische Gleichgewicht auch funktionieren mochte –,
konnte diese Menschen am Leben erhalten… Und doch lebten sie.
Zuckend. Unruhig. »Fehlgeschlagene Experimente?«
    »Vielleicht sind sie durch Golochows Behandlungen
verrückt geworden«, sagte Ben. »Zu verrückt, um
sie auf die Welt loszulassen.«
    »Sollen wir einen der Tanks aufbrechen?«, fragte
Breaker.
    »Das würde ich nicht wagen«, entgegnete ich.
»Ich wüsste nicht, worauf ich achten muss.« Wir
befanden uns auf unbekanntem Territorium.
    »Gehen wir weiter«, drängte Delbarco. Ihre Stimme
hallte über die Reihen der Tanks. »Es bleibt uns vielleicht
nicht mehr viel Zeit.«
    Wir schenkten ihr keine Beachtung. Ben und ich drehten uns fast
gleichzeitig um und musterten die langen Reihen summender Stahltanks.
Die Angst hatte uns fest im Griff, und wir mussten sie
abschütteln, wenn wir Antworten finden

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