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Jäger

Jäger

Titel: Jäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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erwiderte Breaker.
    Der achte Stock sah aus wie eine große Klinik, der
plötzlich das Geld ausgegangen war. Ein verlassenes Empfangspult
stand in der Mitte eines halbrunden Foyers. Sechs Korridore
führten strahlenförmig wie Sonnenbahnen in die Tiefen des
Stockwerks. Am Ende eines Ganges erkannte ich im blinkenden Licht
einer Neonröhre eine Turnhalle mit Seitenpferd, einem Stapel
Matten, einigen Barren und Ringen.
    »Wir wollen nicht zu lange hier bleiben«, mahnte
Delbarco.
    Kein Sonnenlicht. Keine Fenster. Niemals eine Gelegenheit, ins
Freie zu gehen.
    Ich wandte mich nach links, ging einen der Korridore entlang,
blieb stehen und blickte durch die erste offene Tür: flackernde
Birnen in zerbrochenen Deckenlampen, verstreute Papiere, ein
eingetretener Fernseher, von Stiefeln verschmierte Blutspuren. Ein
Poster von Tolkiens Mittelerde aus den Sechzigerjahren
wetteiferte mit Kinderzeichnungen von Drachen, einer hakennasigen
Hexe und Flugzeugen. Unter den Bildern stand ein weiß
lackiertes Bettgestell aus Eisen mit einer nackten Matratze darauf.
Die Betttücher lagen zusammengeknüllt auf dem
Fußboden. In eine Ecke hatte jemand einen kleinen gelblichen
Haufen gesetzt. Überall Glasscherben.
    Vom Ende des Korridors war leiser, aber sehr lieblicher Gesang zu
hören, ob Knaben- oder Mädchenstimme konnte ich nicht
sagen. Es klang wie ein russisches Volkslied. In der Nähe
hörte ich jemanden weinen. Ich ging an zwei geschlossenen
Türen vorbei, halb darauf gefasst, dass gleich ein Teenager mit
einer Uzi herausstürmen würde und uns mit Kugeln
durchsiebte. Oder dass sich die Decke öffnen würde, um
Hektoliter von Markierungsflüssigkeit, vermischt mit Nadeln zur
Durchlöcherung unserer Schutzanzüge, über uns zu
ergießen. Alles war möglich. Ich hatte schon zu viel
erlebt, um irgendetwas für gänzlich ausgeschlossen zu
halten.
    Die Tür zu meiner Rechten gab den Blick in einen Raum voller
Stahlwannen frei – zur Hydrotherapie, wie ich vermutete. Doch
dann sah ich, dass die Wannen mit einer trockenen gelben Paste
verkrustet waren. Ich war heilfroh, in dem Schutzanzug zu stecken und
die Luft draußen nicht einatmen zu müssen.
    Genau das hatte Tammy Ben und Rob beschrieben: ein
Trainingszentrum. Ein Badehaus der bakteriellen Indoktrination. Die
Golochowa hatte sich allerdings mit diesem Notbehelf bescheiden
müssen; sie konnte sich keinen Platz auf dem größten
Vergnügungsdampfer der Welt leisten. Ob sie überhaupt noch
Kontakt mit ihrem Mann hatte? Ich konnte mir beim besten Willen nicht
vorstellen, dass sie wie ein Liebespaar stundenlang am Telefon
turtelten.
    Als ich Schritte hörte, ging ich langsam weiter. Auf halber
Höhe des Ganges trat ein schwarzes Mädchen in langem
weißen Nachthemd aus der Tür. Hinter ihr trippelte ein
kleines Kind mit schmalem Gesicht und seidigem Blondhaar, das sich
mit beiden Händen an das zerlumpte Nachthemd der Älteren
klammerte. Beide starrten mich aus misstrauischen, verschlafenen
Augen an.
    Das ältere Mädchen brüllte irgendetwas auf
Russisch. Ich warf Ben, der ein paar Schritte hinter mir ging, einen
Blick zu, aber er schüttelte den Kopf.
    Ich bedeutete dem Mädchen, dass ich sie nicht verstand, und
starrte auf ihre nackten Unterarme. Lange, rosarote Narben verliefen
von ihren Handgelenken bis mindestens zu den Ellbogen, wo sie unter
den weiten, schlotterigen Ärmeln verschwanden. In den braunen
Fingern hielt sie eine Infusionsflasche aus Plastik, von der ein
Schlauch mit einer Einspritznadel herabbaumelte.
    Drei weitere Kinder traten aus anderen Zimmern auf den Korridor
heraus und näherten sich vorsichtig, aber neugierig.
    Das schwarze Mädchen schüttelte mit herausfordernd
blitzenden Augen den Kopf und deutete auf ihren Mund: Was zu
essen, du Mistkerl – verstanden?
    Ein acht- oder neunjähriger Junge schlurfte in gummibesohlten
Hausschuhen über den Korridor. Zwei breite gelbe Heftpflaster
klebten kreuzweise auf dem rasierten Schädel. Er blickte sanft
wie ein Engel, grinste aber von einem Ohr zum anderen, als seine
Hausschuhe auf den harten blauen Fußboden klatschten und dabei
jedes Mal quietschten.
    Als Ben meinen Ellbogen berührte, zuckte ich zusammen.
»Gehen wir«, sagte er. »Wir können hier nichts
tun. Und es hat keinen Sinn, irgendwelche Risiken einzugehen. Wir
wissen nicht, was hier vorgefallen ist.«
    Ich konnte es mir vorstellen. Die älteren Kinder, die kleinen
Helfer der Golochowa – Ben und Rob hatten sie seinerzeit auf der
Laderampe gesehen –,

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