Jäger
Die Regale waren teilweise
umgeworfen, viele Bücher stapelten sich in kunterbunten Haufen
zwischen einem Stuhl und dem Parkettboden. Ein langer Esstisch aus
Eichenholz war mit dicken, ledergebundenen Fotoalben
übersät, manche davon aufgeschlagen, andere
übereinander getürmt. Einer der Stapel war umgefallen und
hatte einen silbernen Kerzenleuchter umgeworfen.
»Das ist eine Wohnung«, bemerkte Breaker. »Hier hat
jemand gewohnt.«
Eine ganze Galerie von lebensgroßen Heldenporträts,
eingerahmt von Samtvorhängen, aufgehängt an goldenen, mit
Quasten verzierten Kordeln, starrte mit düsteren Blicken von der
hinteren Wand auf das Chaos herab. Dies hätte das Wohnzimmer
eines wohlhabenden Russen im Exil sein können, der
persönliche Schrein einer glorreichen Vergangenheit.
Ben blätterte in einem der aufgeschlagenen Alben, drehte es
zu sich herum, betrachtete einige der eingeklebten Fotos genauer und
stieß einen erstaunten Pfiff aus. »Wir sollten die
mitnehmen«, sagte er. »Alle.«
Breaker warf ihm einen spöttischen Blick zu. »Ich
dachte, wir seien hier, um biologische Proben zu entnehmen.«
»Ich hatte eine unverheiratete Tante, die unsere
Familienfotos sammelte«, sagte Ben. »Sie klebte sie in
Alben und tippte Zettel mit Namen, Datum und Ort, die sie unter die
Fotos klebte. Alle schickten ihr Abzüge. Sie sammelte sie, bis
sie starb. Sie war unsere Archivarin.«
Breaker war noch immer nicht überzeugt.
»Nehmen Sie die mit«, beharrte Ben. »Wenn wir sie
nicht genauer ansehen, verstehen wir vielleicht nie, was geschehen
ist.«
Breaker sah mich an. »Nehmen Sie die Alben mit«, sagte
ich.
Drei Techniker von der Spurensicherung in Schutzanzügen kamen
die Treppe heraufgewankt; sie waren außer Atem und schleppten
Aluminiumkoffer mit sich. Während Delbarco sich im Wohnzimmer
leise mit ihnen unterhielt, erkundeten Ben, Breaker und ich die
übrige Wohnung.
Ben entdeckte ein Badezimmer. Er öffnete die massive,
weiß gestrichene Tür, spähte hinein und ging zu einer
frei stehenden Badewanne auf stilisierten Löwentatzen
hinüber, vor der ein Plastikvorhang mit
Gänseblümchenmuster hing. Als er nach dem Vorhang griff,
warf er mir durchs Visier einen traurigen, widerstrebenden Blick
zu.
»Zeitverschwendung«, sagte ich.
»Scheiß drauf«, knurrte er. »Das hat die Melone damals auch gesagt: Zeitverschwendung.«
Als Ben den Vorhang zurückzog, schepperten die Stahlringe. In
der Emaillewanne lag eine leblose, zerbrechlich wirkende Gestalt,
erstarrt in einer Haltung, in der Arme und Beine miteinander
verschlungen waren und die Knöchel hervortraten. Was über
dem langen schwarzen Kleid trieb, erinnerte an den baumelnden Kopf
einer Marionette. Aus dem Pavian-Gesicht starrten große
trübe Augen zur gekachelten Decke hinauf. Ihr Ausdruck verriet
Überraschung und Enttäuschung.
»Die Golochowa, nehme ich an«, sagte Ben. »Kommen
Sie und erweisen Sie ihr die letzte Ehre.« Breaker und ich
traten ins Bad. »Die Frau unseres heimlichen Meisters. Ich
schätze, sie wollte nicht aus ihrer Wohnung geworfen
werden.«
Sie hatte sich offenbar mit einem kleinen Revolver, dessen
Elfenbeingriff sie noch immer in der knorrigen Hand hielt, in die
Schläfe geschossen. Die Hand ruhte auf dem Rand der Wanne, der
Revolver hing am Abzugbügel von den steifen, weißen
Fingern herab.
Dabei hätte sie doch ewig leben sollen. Vielleicht hatte ihr
Mann ihr das zugesichert. Als Belohnung dafür, dass sie ihm als
Versuchskaninchen gedient hatte. Als Belohnung für Jahre des
Wahnsinns.
Ben trat den Rückzug an. »Hier gibt es nichts von
Interesse für mich«, ließ er Delbarco wissen, als er
an ihr vorbei durch die Tür schlüpfte. »Aber wir
sollten die Fotos mitnehmen.«
»Ich würde gerne Gewebeproben von ihr nehmen«,
teilte ich Delbarco mit. Sie gab meinen Wunsch an die Techniker
weiter, die sich sogleich an die Arbeit machten, den Leichnam aus der
Wanne zogen und auf die Fliesen legten. Ich verdrückte mich aus
dem Badezimmer, ehe ich noch mehr mit ansehen musste.
Breaker klemmte sich zwei Alben unter den Arm, ich selbst drei,
Ben vier. Das war weniger als ein Drittel aller Alben, aber sie waren
dick und schwer. Delbarco hatte uns davor gewarnt, zu viel
mitzuschleppen, es könne uns im Fall eines schnellen
Rückzugs behindern.
»Noch ein Stockwerk«, sagte Delbarco. Ihre Augenlider
waren so schwer, als habe sie bereits allzu viel gesehen.
»Bereiten Sie sich auf einiges vor, meine Herren. Das
nächste Stockwerk
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