Jäger
Wohnung in Oakland, die mir nach der Trennung von Julia als
Notunterkunft gedient hatte, und verwischte ein paar allzu
augenfällige Spuren. Auf einen Nachsendeantrag für die Post
verzichtete ich, die Handys meldete ich ab.
Ich brauchte Zeit und einen Platz, an dem ich in Ruhe nachdenken
konnte. Unter falschem Namen mietete ich mir in Berkeley eine kleine
Mansardenwohnung, die an sonnigen Sommervormittagen im wahrsten Sinne
des Wortes im Schatten des prachtvollen weißen Claremont-Hotels
lag. Meine Vermieterin, eine ältere Dame, war Malerin und fand
es ganz reizend, dass ein Wissenschaftler über ihrer Garage
wohnte und dort nachdachte. Das Haus selber teilte sie mit zwei
jüngeren Freundinnen, gleichfalls Malerinnen, die kurze Haare
und wenig Langmut mit Männern hatten. Ich bekam die Wohnung auf
Empfehlung eines Professors für Mikrobiologie an der San
Francisco State University, eines Kollegen, der in den
Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts so genannte Radikale
versteckt hatte, die weit mehr als ich auf dem Kerbholz hatten. Hin
und wieder rief ich von Telefonzellen aus meine Mutter an.
Ich fühlte mich unsichtbar, was einerseits frustrierend war,
andererseits zu meiner Seelenruhe beitrug.
Für einige kurze Wochen kehrte tatsächlich Ruhe in mein
Leben ein. Es war eine Atempause, die anhielt, bis ich K zum ersten
Mal begegnete, Lissa bei mir auftauchte und die Hölle
losbrach.
•
Ich saß in einem abgenutzten Lehnstuhl, blickte durch das
winzige Erkerfenster meiner Wohnung auf die Bananenstauden hinunter,
die unter den von Sprüngen durchzogenen Milchglasscheiben des
alten Gewächshauses ihre Blätter emporreckten, und dachte
über die fragwürdigen Proteine der Vendobionten nach.
Das Gewächshaus stand, quer zur Garage, direkt hinter dem
großen alten, in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts
errichteten Fachwerkhaus, das sich hinter hohen Wacholderbüschen
verbarg. Hin und wieder drang das Tappen und Geschlurfe von
Hausschuhen herüber, die der netten alten Dame
gehörten.
Ich kam allmählich zu dem Schluss, dass das, was meine kurze
Liste enthielt – und weitere Anhaltspunkte besaß ich nicht
–, ausreichen mochte. Die Liste würde mir vor Ort den Weg
durch das Labyrinth chemischer Verbindungen weisen, die die
Lebensgeschichten menschlicher Zellen ausmachen.
Aber mit wem oder was kommunizierten diese Proteine, wenn sie
ihrer Arbeit nachgingen? Welche chemischen Botschaften
unterdrückten sie, welche gaben sie während eines
Jahrzehnte umspannenden Menschenlebens weiter? Ohne lebende
Vendobionten würde ich es niemals erfahren, sondern mich
für eine unter tausend gleichermaßen wahrscheinlicher
Möglichkeiten entscheiden müssen. Aber Ratespiele sind nie
mein Ding gewesen.
Als der Blick auf die Bananenstauden seinen Reiz verlor und die
Beschaulichkeit in Langeweile umschlug, verließ ich meine
Wohnung, überquerte die mit Hilfe von Betonpollern
verkehrsberuhigte Straße und wandte mich nach Westen. Die
University of California, Niederlassung Berkeley, war nur ein paar
Straßen entfernt. Ich setzte mich in die Bibliothek, sondierte
die neuesten Ausgaben der Fachzeitschriften und loggte mich über
einen Computer der Bibliothek ins Internet ein, um mir die neuesten
Vorabdrucke diverser Artikel anzusehen.
Doch es war ein außergewöhnlich ruhiger Monat, was mein
Fachgebiet betraf. In der Bibliothek Zeitschriften zu lesen war nicht
unbedingt die Therapie, die ich brauchte.
Ich dachte zu viel über das Nichts nach und der Trübsinn
war keine angenehme Gesellschaft. Was ich brauchte, waren
Arbeitsmöglichkeiten in einem Labor, hitzige, anregende
Diskussionen mit Kollegen, Beziehungen zu Firmen, die grundlegende
Genforschung betrieben. Und ich benötigte weitere Proben. Ich
brauchte Handgreifliches, wollte unbedingt wieder mit den Händen
arbeiten, denn sie haben mir stets den Weg gewiesen und die tieferen
Schichten meines Gehirns angeregt.
Also nahm ich wieder Kontakt zur Außenwelt auf, ließ
ein Telefon installieren, schrieb Briefe und unternahm längere
Spaziergänge durch den Campus und die Straßen in der
Nähe meiner Wohnung.
Über meinen Freund, den Mikrobiologen, streckte ich die
Fühler nach freien Laborräumen aus und handelte mir
reihenweise Absagen ein. Laborraum war knapp und mein beigelegter
Lebenslauf wohl allzu sprunghaft.
Meine Arbeit über die Kommunikation zwischen Mitochondrien
und Darmbakterien war erneut Gegenstand einer wissenschaftlichen
Begutachtung gewesen (wie
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