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Jäger

Jäger

Titel: Jäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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in die sieben Fuß lange, in den Kalkstein von
Florida gebaggerte Grube hinabgelassen wurde.
    Mom saß drüben im Wohnzimmer im Kreis der Damen ihres
Bridge-Clubs, mit denen sie regelmäßig den neuesten
Klatsch über Seifenopern und Einkaufstüten voll
zerfledderter Liebesromane austauschte, und weinte leise in ein
schwarzes, spitzenbesetztes Taschentuch aus Kunstseide.
    Mir ging nicht aus dem Kopf, wie ich Rob einmal mitten in einem
hitzigen Streit darüber, wer von uns beiden mit einem bestimmten
Mädchen ausgehen würde, mit der Faust eins auf die Nase
gegeben hatte. Wir waren damals achtzehn gewesen. Wir hatten neben
eben diesem Ahorntisch gestanden und unser Wortgefecht war immer
hitziger geworden, denn beide waren wir davon überzeugt gewesen,
dass der andere die Grenze überschritten und eine Abreibung
dringend nötig hatte. Ich hatte als Erster zugeschlagen und ihn
damit völlig überrascht. Rob war wie ein Sack umgefallen.
Seine Nase hatte wie irre geblutet und den ganzen Fußboden
versaut.
    Im Augenblick wäre ich vor Scham am liebsten in ein tiefes
Loch gekrochen und nie wieder hervorgekommen. Doch ich war machtlos
dagegen, Lissa anzubaggern.
    Die Frauen beklagen sich, dass alle Männer gleich seien. Das
stimmt nicht. Wir haben lediglich ein paar gleiche Ziele.
Während ich Scham und Trauer empfand und meine Mutter im
Nebenzimmer schluchzte, musterte ich die ehemalige Frau meines
Bruders, seine Witwe, mit weit mehr als Wohlwollen und stellte fest,
dass sie mit ihren sechsundzwanzig Jahren so attraktiv war, wie eine
schöne Frau in der Blüte ihrer Jahre nur sein kann.
    Es ist sinnlos, allen Pferden in deiner Herde die Zügel
anzulegen. Sie treten nur umso heftiger gegen den Zaun, wenn der Tod
in der Luft liegt.
    »Hast du irgendwas gehört?«, fragte Lissa und
strich sich eine Strähne des hellen Haars aus der Stirn. Sie
schien die Ellbogen angewinkelt und die Hände in der Nähe
ihres Gesichts halten zu wollen. Offenbar hatte sie vor ein paar
Monaten zu rauchen aufgehört, aber der Drang nach oraler
Befriedigung verfolgte sie mit tückischer
Hartnäckigkeit.
    »Nein«, sagte ich.
    Ich war zum Beerdigungsinstitut gegangen und hatte die
erforderlichen Formulare unterschrieben. Dessen Fahrer hatte meinen
Bruder am Luftfrachtschalter des Miami Airport abgeholt, ihn den
Tischen aus rostfreiem Stahl übergeben und sich vergewissert,
dass alle erforderlichen Chemikalien injiziert wurden. Die Autopsie
hatte bereits in New York stattgefunden. Ohnehin hatte niemand einen
offenen Sarg gewollt.
    Ich hätte alles für ein paar Minuten mit dem lebenden
Rob gegeben, für ein Gespräch unter vier Augen. Nichts
wünschte ich mir mehr als eine letzte Gelegenheit, mich bei ihm
für ein paar Dinge zu entschuldigen, zu denen unter anderem auch
dieser gemeine Schlag auf die Nase gehörte.
    »Ich würde alles dafür geben, wenn ich mich bei ihm
für einige Dinge entschuldigen könnte«, erklärte
Lissa in diesem Augenblick. Angesichts der Tatsache, dass wir zur
selben Zeit dasselbe gedacht hatten, zuckte ich zusammen. Sie sah
mich unverwandt mit ihren braunen, ein wenig klein geratenen Augen
an, die von eckig gezupften und ernst wirkenden, weizengelben
Augenbrauen überschattet wurden. Auch ihr Kopf wirkte im
Vergleich zu ihren sonstigen Körpermaßen eine Spur zu
klein. Diese Asymmetrien, umrahmt von dem lässig, aber
sorgfältig frisierten, weizenblonden Haar, ließen sie
sogar noch sinnlicher wirken.
    »Wie meinst du das?«
    »Wir haben uns Dinge angetan, die nicht sehr nett waren, und
ich empfinde das Bedürfnis, mich zu entschuldigen. Bei ihm. Ich
würde ihm gern sagen, wie Leid es mir tut.«
    »Ich verstehe.«
    »Eure Mutter…«, sagte sie und sah in die Richtung
des Zimmers, aus dem das leise Schluchzen kam. Lissa verzog das
Gesicht, als würde jemand mit den Fingernägeln über
eine Schiefertafel kratzen.
    »Schließlich ist es ihr Sohn«, entgegnete ich in
dem schwachen Versuch, unsere Mutter vor dieser beunruhigenden
Schönheit in Schutz zu nehmen, die Rob auf eine Art und Weise
durch die Mangel gedreht hatte, wie ich es niemals vermocht
hätte.
    »Nichts für ungut«, sagte sie schnell.
    »Nichts für ungut«, nickte ich.
    •
    Unser Leichenschmaus bestand aus Sandwiches und Gemüsehappen,
die auf silbernen Platten angerichtet waren, und Früchtepunsch.
Als die meisten Leute gegangen waren und Mutter sich ins Bad
zurückgezogen hatte, um sich frisch zu machen, köpfte ich
in der schattigen Küche zwei gekühlte

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