Jäger
Märchen mit verschränkten
Armen vor dem Eingang. Das hatte es bei Konferenzen der Promethianer
noch nie gegeben. Aber in letzter Zeit waren allzu viele
Wissenschaftler ums Leben gekommen.
Als ich näher kam, entdeckte mich Castler aus den
Augenwinkeln heraus. Sofort unterbrach er den jungen Mann mitten im
Satz, wirbelte herum und kam auf mich zugeeilt.
»Hal!«, rief er lächelnd und streckte mir die Hand
entgegen. Seine Haare waren länger, als ich sie in Erinnerung
hatte; sie fielen dicht und wallend bis auf den Kragen hinab. Die
Liszt-Mähne stand ihm gut. »Wie schön, Sie zu sehen!
Es waren schreckliche Monate – so viele Freunde sind von uns
gegangen. Wir hatten schon das Schlimmste für Sie
befürchtet!«
Auf Castlers neugieriges Drängen hin lieferte ich ihm eine
nicht übermäßig Angst einflößende Version
dessen, was in den letzten beiden Monaten passiert war. Mein Bericht
war sehr knapp, wesentliche Dinge ließ ich aus. Er hörte
mir mit großer Anteilnahme zu und sprach mir sein Beileid zu
Robs Tod aus, den er einen schrecklichen Verlust nannte. Dann kam er
auf die Probleme der Promethianer zu sprechen: Die Mitgliederzahlen
seien zwar gestiegen, die Zuwendungen der Industrie jedoch
rückläufig. Außerdem habe sich das Wall Street
Journal einen ganz besonders niederträchtigen Angriff auf
seine Theorien erlaubt.
Ich hörte ihm mit wachsender Distanz zu und kam mir dabei wie
ein Kriegsheimkehrer vor, der das nichts sagende Geschwätz eines
Geschäftsmannes über sich ergehen lassen muss.
»Was haben wir dem Wall Street Journal denn je
getan?«, fragte Castler mit resigniertem Lächeln. Er
fixierte mich erwartungsvoll und gestikulierte dabei so, als wolle er
jemandem den Hals umdrehen.
Als ein anderer Konferenzteilnehmer Castlers Aufmerksamkeit auf
sich zog, wandte er sich abrupt von mir ab, um sich erneut in ein
Gespräch zu stürzen.
Ich sah mich in der Halle um, bewunderte die dunkel gebeizten
Eichenbalken, die die hohe Decke trugen, und die orangefarbenen,
weißen und blauen maurischen Wandkacheln. Am Empfang besorgte
ich mir das Programmheft, plauderte ein wenig mit Frieda – sie
war Modedesignerin und verstand es geschickt, ihre humanistische
Bildung in Phils technokratisches Weltbild zu integrieren – und
überflog die Themen der Tagung, die wenig Neues boten. Fünf
Einzelvorträge zu spezifischen Themen und mehrere
weiterführende Workshops, die sich über zwei Tage hinziehen
würden. Der Hauptreferent würde einen Vortrag über
moderne Methoden der Eiweißanalyse und ihr Potenzial zur
Identifizierung von Einzelgen-Blockaden auf dem Weg zur
Zellverjüngung halten.
Als ich das Expose seines Vortrags las, spürte ich einen
Anflug von Zorn. Es gab keine auf Einzelgenen beruhenden
Lösungen, das war bereits vor Jahren bewiesen worden. Der
blauäugige Enthusiasmus war nichts Neues, aber auch der
theoretische Ansatz war wenig originell, und das, was er als
Antworten anbot, nicht mehr aktueller Stand der Forschung.
Ein flüchtiger Blick auf die Teilnehmerliste sagte alles:
Lediglich achtzig Mitglieder nahmen an der Konferenz teil. Im letzten
Jahr waren es noch hundert gewesen.
Wir drängten uns im Gänsemarsch in den Vortragssaal. Ich
war einer der wenigen im Publikum, die keine Aufzeichnungen in einen
handgroßen PC oder Laptop eingaben. Das Piepsen und Klicken der
Tasten dauerte mehrere Minuten lang an, während Phil, Frieda und
ihre Mitarbeiter Videokameras und Digitalprojektoren anschlossen.
Meine Nervosität schlug in Traurigkeit um. Um mich herum
waren die Menschen versammelt, die den wissenschaftlichen Ansatz
für die Langlebigkeitsforschung entwickelt hatten. Manche von
ihnen arbeiteten seit mehr als vierzig Jahren an diesen Ideen und
ihrer praktischen Anwendung. Doch der Konferenz haftete der schale
Geruch des schon Dagewesenen, des bereits Abgehakten an: Die Leute
hier entwickelten kein revolutionäres Denken, sondern klopften
sich gegenseitig auf die Schultern.
Mir war klar, dass dies nicht Castlers Schuld war. Zum Teil lag es
daran, dass sich die meisten viel versprechenden Talente von privaten
Unternehmen der Biotechnologie anwerben ließen. Die
großen Konzerne – und die kleinen Firmen hielten es nicht
anders – machten die brandheißen und wirklich
grundlegenden Ergebnisse ihrer Forschungen nur selten der
Öffentlichkeit zugänglich, schon gar nicht den
Visionären und Pionieren der Biochemie. Bei Visionären kann
man sich nun mal nicht darauf verlassen, dass sie den
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