Jäger
also nur der erste Stock.
Alle bis auf eine der zwölf Türen im ersten Stock waren
geschlossen und zugesperrt. Auf den meisten prangten Resopalschilder
mit diversen eingravierten Namen, die in billigen Aluminiumfassungen
steckten. Hinter der einzigen offenen Tür saß eine einsame
Empfangsdame an einem schäbigen Schreibtisch und sprach ins
Telefon. »Ja, Mutter. Ich rechne es aus. Warte…«,
hörte ich sie sagen. »Das sind dann
vierhundertsechsundzwanzig Orangen. Richtig? Oh, entschuldige.
Fünfhundertzwei.« Sie sah nicht einmal auf, als wir
vorübergingen.
Nachdem wir uns vergewissert hatten, dass der Korridor
menschenleer war, probierten wir die Messingschlüssel an allen
drei Türen aus, an denen keine Namenschilder hingen.
Als keiner passte, legten wir eine Pause ein. Lissa wollte den
Trinkbrunnen am Ende des Gangs benutzen, aber ich warnte sie
davor.
»Wie sollten die von dieser Adresse wissen?«, fragte
sie. Ich schüttelte abwehrend den Kopf.
»Es ist heiß«, jammerte sie, unterließ es
aber, von dem Wasser zu trinken.
Während ich die Namensschilder nochmals musterte, versuchte
ich mir den besonderen Humor meines Bruders und seine Eigenarten in
Erinnerung zu rufen. Dreimal marschierte ich den Gang auf und ab, was
mir einen neugierigen Blick von der Empfangsdame einbrachte, bis ich
schließlich vor einer Tür mit dem Schild Richard Escher
Industries stehen blieb.
Escher, Richard. Escherichia coli – E. coli – waren von einem Deutschen namens Escherich entdeckt worden.
Der zweite Messingschlüssel passte, die Tür sprang auf.
Das Büro dahinter war dunkel. Irgendetwas Schweres verhinderte,
dass die Tür ganz aufschwang: offenbar ein Stapel Kartons. Ein
muffiger Geruch, abgestanden und moderig, drang mit der kühlen
Luft nach draußen. Keine große Sache, dachte ich, sicher
keine Leiche, sondern nur Schimmel, vielleicht von alten
Zeitschriften oder Büchern. Plötzlich zögerte ich, die
Wohnung zu betreten.
Lissa nieste. »Woher hast du gewusst, dass es diese Tür
ist?«, fragte sie und holte ein Kleenextuch aus der
Handtasche.
Ich erklärte es ihr. »Allzu offensichtlich«, sagte
ich leise.
»Offensichtlich für wen?«
Als vom Ende des Korridors eine Stimme zu hören war, machten
wir beide einen Satz ins Büro. Ich schloss die Tür hinter
uns und tastete nach dem Lichtschalter. Gleich darauf erhellten
grelle Neonröhren einen kleinen Vorraum und den Flur.
Lissa atmete tief aus und lachte. »Wir benehmen uns wie
Einbrecher«, flüsterte sie.
»Wir sind aber keine, falls die Miete bezahlt ist«,
flüsterte ich zurück.
»Es ist inzwischen anderthalb Monate her«, bemerkte
Lissa.
Wir redeten nur, um die Stille zu durchbrechen. Was wir sahen, war
nicht besonders aufschlussreich. An der Wand hinter der
Eingangstür stapelten sich Kästen mit Hängeordnern.
Zwei waren von einem Turm in der Ecke herabgefallen. Wir stiegen
über einen Stoß von Zeitschriften hinweg, alte Ausgaben
von Friday, Colliers, Time und Life.
Nachdem ich eine verklemmte Schranktür endlich aufgestemmt
hatte, entdeckte ich weitere Stapel von Zeitungen und Zeitschriften,
eine Schachtel mit Zeitungsausschnitten und einen Karton mit
Computerausdrucken – offenbar Artikel, die er sich aus dem
Internet gezogen hatte.
»Was hat er hier getrieben?«, fragte Lissa.
»Recherchen angestellt«, vermutete ich. Ich nahm eine
der Zeitschriften in die Hand. Aus zwei Seiten waren Artikel
herausgeschnitten worden. Fast alle Zeitschriften stammten aus den
späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahren. Einige
waren sogar aus den Dreißigern.
Was wir unter all diesen Stapeln vom Teppich erkennen konnten, war
grau und zerschlissen.
»Was ist das für ein Geruch?«, fragte Lissa,
versuchte vergeblich, ein Niesen zu unterdrücken und
schnäuzte dezent in ihr Papiertaschentuch.
»Alte Zeitungen, nehme ich an.«
»Riecht wie schales Bier.«
Als wir in das zweite Zimmer sahen, einen knapp zehn Quadratmeter
großen Raum, entdeckten wir ein zusammenklappbares Feldbett,
auf dem eine Wolldecke lag. Rings um das Bett füllten
Bücher und Zeitschriften billige Regale aus Kiefernholz und
Leichtbausteinen, quollen aus Schachteln und einem weiteren kleinen
Schrank. Größtenteils waren es Taschenbücher, vor
allem historische Werke über den Ersten und Zweiten Weltkrieg
und die Oktoberrevolution. Ich erkannte einige zerlesene Exemplare,
die Rob und ich schon als Kinder verschlungen hatten.
Als ich auf drei leinengebundene Bücher von Rudy
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