Jäger
eine Linie.
Eine rote Nadel verdeckte fast den südlichen Rand der Bucht von
San Francisco. Das konnten die Salinen sein, von denen Lissa mir
erzählt hatte. Sogar aus New York City ragte eine blaue Nadel.
Die anderen Nadeln mochten ja Orte mit besonders hohen oder
interessanten Bakterienkonzentrationen bezeichnen – aber New
York City?
Ich stützte meine Hand auf die Kühltruhe, sah auf sie
hinab und zog an dem Vorhängeschloss, das an einem schimmernden
Stahlbügel hing.
»Sollen wir?«, fragte Lissa.
»Natürlich«, erwiderte ich. Wenn überhaupt
jemand das Recht dazu hatte, dann ich, dachte ich.
Lissa trat hinter mich und reckte neugierig den Hals. Ich
versuchte es mit dem glänzenden Stahlschlüssel. Das
Sicherheitsschloss klickte leise und klappte auf. Als ich den Deckel
der Truhe anhob, stieg eine dünne Dampfwolke auf, senkte sich
aber gleich wieder.
Lissa stieß einen schrillen Schrei aus und machte einen Satz
zurück.
Tote hatte ich auch früher schon gesehen, auf Seziertischen
in der Anatomie. Ich weiß also, wie sie aussehen. Dennoch
versetzt mir der Anblick einer Leiche jedes Mal aufs Neue einen
Schock. Für mich ist ein toter Mensch gleichbedeutend mit einer
Niederlage. Ich beugte mich näher über die Truhe, um die
Leiche genauer in Augenschein zu nehmen. Zweifellos musste es einen
Grund dafür geben, dass diese Leiche hier lag, im Büro
meines Bruders, tiefgefroren und immer noch mit schwarzen Socken,
einem zerknitterten T-Shirt und blauer Unterhose bekleidet.
Sicherlich gab es auch eine Erklärung dafür, dass an ihr
eine Autopsie durchgeführt worden war. Der obere Teil des
Schädels war aufgesägt und die Schädeldecke entfernt
worden. Ein Großteil des Gehirns und die abgezogene Kopfhaut
lagen auf einer dicken schwarzen Plastikplane. Der Torso war
ebenfalls geöffnet worden: mit einem einzigen sauberen Schnitt
vom oberen Abdomen bis zu den Nieren.
Doch dies hier war keine anonyme Leiche aus der Anatomie, an der
die Studenten herumschnibbeln konnten. Ihr Fleisch war blassblau und
mit grünlichen Flecken übersät. Ich bezweifelte, dass
ich in den unteren Gewebeschichten noch angestautes Blut finden
würde, wenn ich sie umdrehte. Vermutlich war sie nur wenige
Stunden nach ihrem Tod eingefroren worden.
Ich machte den Deckel wieder zu und trat zurück, wobei ich
gegen den voll gepackten Tisch in der Mitte des Zimmers stieß.
Ich holte tief Luft, um meinen Magen zu beruhigen.
»Wir müssen hier weg«, drängte Lissa.
»Geh an die Tür und horche nach draußen«,
sagte ich und schluckte krampfhaft.
»Ich will aber gehen.«
»Dann warte im Wagen auf mich. Und halte die Augen
offen.«
»Du darfst nichts berühren!«, rief sie mit
erstickter Stimme und rang nervös die Hände. »Wir
sollten die Polizei verständigen. Jetzt sofort!«
»Sei bitte still!«, knurrte ich mit zusammengebissenen
Zähnen. Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich, um
nachzudenken. Ich starrte die Tiefkühltruhe an, hörte, wie
sich Lissas Schritte auf dem alten grauen Teppich im Korridor
verloren.
Aber sie kam gleich wieder zurück.
»Hat Rob das getan?«, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf. Woher sollte ich das wissen?
»Wenn ja, warum?«
»Bitte lass mich nachdenken.«
Lissa zog einen zweiten Stuhl heran und nahm Platz.
»Fingerabdrücke«, warnte ich sie. Sie zupfte ein
frisches Kleenex aus ihrer Handtasche und wischte damit die oberste
Quersprosse der Lehne ab, wo sie den Stuhl angefasst hatte.
»Das hier ist offensichtlich ein Labor«, sagte ich.
»Vielleicht ist die Leiche jemand, der ihn angegriffen hat. Ihn
töten wollte.«
»Aber warum hat er ihn seziert?« Und dann fügte
Lissa mit leiser, aber fester Stimme hinzu: »Du solltest
versuchen, wie dein Bruder zu denken.«
Ich stand auf und ging im Zimmer umher. Etwas nagte an mir,
irgendein diffuses Wissen, das von den jüngsten Ereignissen, von
dem Schock überlagert wurde. Ich ließ den Blick suchend
über das Durcheinander von Objektträgern, Plastikbeuteln,
Petrischalen und Chemikalienflaschen schweifen und entdeckte eine
Schachtel mit Einweghandschuhen aus Kunststoff. Rob und ich waren
beide gegen Latex allergisch. Ich zog ein Paar Handschuhe aus der
Schachtel und streifte sie mir über die Hände.
Lissa reichte mir ein Kleenex, mit dem ich den Griff der
Kühltruhe abwischte. »Wir müssen die Tücher
mitnehmen«, sagte ich und reichte ihr das Kleenex. Sie stopfte
sie alle in die Handtasche.
»Glaubst du, dass hier irgendwer schon alles
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