Jaegerin der Daemmerung
die Wangen stieg. Es beschämte sie, nicht mehr zu wissen, wie sie sich anderen gegenüber zu verhalten hatte. Einst, vor langer Zeit, hatte sie einem Haushalt voller Wärme und Glück vorgestanden. Irgendwie brachte das warme Lächeln, das Razvans Lippen umspielte, die bittersüßen Erinnerungen wieder an die Oberfläche. In ihrem Haus hatte es immer so viel Gelächter und Liebe gegeben. Wie hatten ihre Brüder nur allem Guten den Rücken kehren und ihre Seelen verkaufen können?
Eine Zeitlang hatte Ivory versucht, sich einzureden, dass die Trauer über ihr Verschwinden daran schuld gewesen war, dass sie auf die schiefe Bahn geraten waren. Doch sie wusste, dass dem nicht so war. Alle fünf hatten sich zusammen dem Bösen verschrieben - in der Geschichte der Karpatianer ein einmaliger Vorgang. Da niemand ihre Brüder so gut kannte wie sie, wusste sie auch, dass sie ihre Entscheidung aus freien Stücken getroffen hatten und sie nicht daher resultierte, dass sie zu lange keine Gefühle mehr hatten empfinden können oder dass sie Freunde hatten töten müssen, die zu Vampiren geworden waren. Ihr Entschluss hatte nichts damit zu tun gehabt, dass sie vor Trauer untröstlich gewesen waren oder sie zu lange erfolglos nach ihren wahren Gefährtinnen gesucht hatten. Sie hatten nach Macht gestrebt. Sie hielten sich für schlauer und stärker als der Rest des Volkes, waren überzeugt davon, dass sie etwas Besseres verdient hatten. Ivorys Verschwinden hatte ihnen lediglich die nötige Entschuldigung geliefert, um in die Tat umzusetzen, worüber sie in der Abgeschiedenheit ihres Zuhauses schon manches Mal diskutiert hatten.
»Du siehst traurig aus, Ivory.«
Ivory wollte in ihrem eigenen Heim nicht mit ihren Gefühlen hinter dem Berg halten oder ihre wahre Gestalt verleugnen. Daher zuckte sie einfach mit den Achseln. »Das alles ist etwas schwierig.«
»Ich werde nur bleiben, wenn du das wirklich willst. Ich möchte mich nirgendwo aufdrängen, wo ich nicht willkommen bin«, antwortete Razvan.
»Nein, es ist nicht so, dass ich dich nicht hier haben möchte. Ich habe dich eingeladen! Das Problem liegt vielmehr darin, dass ich nach all den Jahrhunderten der Einsamkeit den Umgang mit jemand anderem einfach nicht mehr gewohnt bin.«
Das Lächeln auf Razvans Lippen wurde breiter, erreichte seine Augen, die beinahe samten wirkten. »Aber ich bin dein wahrer Gefährte und kein Besuch. Verhalte dich so, wie du bist. Ich bin hier, um von dir zu lernen.«
Das tat weh. Razvans Worte trafen Ivory wie eine geballte Faust in den Magen. Er war nicht hier, um sie als Seelengefährten für sich zu beanspruchen, so wie ein Mann das tun sollte. Das wusste sie. Obwohl sie selbst noch unschlüssig war, ob sie das Band zwischen ihnen besiegeln wollte, fühlte sie sich zurückgestoßen. Das war eine durch und durch weibliche Regung, nicht das, was eine Kriegerin fühlen sollte, und sie war von sich enttäuscht. Sie selbst hatte die Grenzen gezogen, und er respektierte sie. Sie ließ ihr volles Haar nach vorne fallen, um sich dahinter zu verstecken.
»Gib mir ein wenig Zeit, mich an alles zu gewöhnen«, sagte sie, weil sie nicht wusste, was sie sonst erwidern sollte.
Ivory beobachtete, wie sich die Wölfe um ihn scharten. Er war wirklich ein gut aussehender Mann. Der Schlaf in der Heilerde hatte ihm sichtlich gutgetan. Er wirkte um einiges jünger und muskulöser als noch vor einem Monat, als sie ihn hergebracht hatte. Sie liebte es, wie sich das schwere Haar, das sie so oft berührt hatte, während sie ihn gefüttert hatte, sanft über seinen Rücken ergoss. Diese dichte Mähne mit den unterschiedlichen Farben.
Statt sich vor den Wölfen aufzubauen, um ihnen zu signalisieren, dass er in der Hierarchie über ihnen stand, kniete er regungslos zwischen ihnen, damit sie ihn beschnuppern und sich an seinen Beinen und seinem Rücken reiben konnten.
Das ist Razvan. Mein Gefährte, raunte sie den Wölfen zu, wobei sie Razvan absichtlich in die Kommunikation mit einbezog. Es war wichtig, dass Raja ihn als ihren Partner und als Mitanführer des Rudels akzeptierte und ihm gehorchte, wenn sie in den Kampf zogen. Das würde er aber nur tun, wenn sie Razvan als ihren Gefährten bezeichnete.
Als dieser ihr einen kurzen Blick zuwarf, gab Ivory sich größte Mühe, nicht zu erröten. Auf einmal wirkte Razvan, als wäre er viel zu groß für ihr Schlafzimmer, als füllte sein männlicher Körper den gesamten Raum aus. Mit jedem Atemzug, den sie tat, atmete
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