Jägerin der Nacht 01 - Nightwalker
hatte. Die silberne Klinge war schmal und leicht gebogen und lief in einer drei Zentimeter langen geraden Spitze aus. Sie hatte diese besondere Form, damit sie leicht ins Fleisch eindrang, zugleich aber den größtmöglichen Schaden anrichtete, wenn sie auf lebenswichtige Organe traf. Auf einer Seite waren ähnliche Symbole wie die auf den Fotos eingraviert. Der Griff war aus Holz, das sich von dem Blut, das es im Lauf der Jahre aufgenommen hatte, dunkel verfärbt hatte.
Ich kannte diesen Dolch. Nicht nur seine Machart, sondern genau dieses Exemplar. Seine Klinge hatte meine Sehnen durchtrennt und Fleischstücke aus meinem Körper herausgeschnitten. In schier endlosen Stunden hatte ich diese Klinge und die vielfältigen Arten von Schmerzen, die sie verursachen konnte, ganz genau kennengelernt.
Ich drehte mich ruckartig um, packte Danaus am Kragen und stieß ihn so fest gegen die Wand, dass er ächzte. „Woher hast du das?", fragte ich und fletschte die Zähne. Ich war bereit, ihn auf der Stelle auszusaugen, bis kaum noch Leben in ihm wäre, um eine Antwort von ihm zu bekommen.
Die Leute ringsum sprangen zur Seite, um sich in Sicherheit zu bringen, versuchten aber gleichzeitig, unseren Streit zu verfolgen. Wir boten bestimmt einen sonderbaren Anblick. Eine Frau drückte einen Mann an die Wand, der doppelt so groß und schwer war wie sie, und in dem Tisch neben ihnen steckte ein Dolch. Sie hätten uns weniger Aufmerksamkeit geschenkt, wenn ich einfach eine Pistole gezogen und ihn erschossen hätte.
„Von einem Naturi", entgegnete Danaus seelenruhig. „Von welchem?" Ich umklammerte seinen Hemdkragen noch fester und registrierte vage, dass er mein Handgelenk losgelassen hatte. Vielleicht zog er gerade ein Messer, aber in diesem Moment hätte ich es vermutlich nicht einmal gespürt, wenn er mir eine Klinge mitten ins Herz gerammt hätte.
„Nerian." „Du lügst!", fauchte ich und stieß ihn abermals gegen die Wand. Meine Verzweiflung wuchs. Außer einigen wenigen, die ihn sofort getötet hätten, konnte ihm niemand von Nerian erzählt haben. „Er ist tot." „Noch nicht." „Wo ist er?"
Zum ersten Mal spielte ein kaltes Lächeln um seine Lippen, und ich sah seine weißen Zähne blitzen. In seinen Augen lag ein unheilvolles Leuchten, das mich beinahe zum Knurren brachte. „Ich mache dich fertig, Danaus. Sag mir, wo er ist!" Er starrte mich sehr lange an und genoss es, ganz die Oberhand zu haben. „Ich zeige dir, wo ich ihn habe", sagte er schließlich.
Ich ließ ihn ruckartig los, als hätte er plötzlich angefangen zu brennen. Er hatte Nerian? Wie war das möglich? Es konnte sich nur um einen ganz ausgefuchsten Trick handeln. Ich wendete mich von ihm ab und blickte in die Menge.
Alle zogen hastig die Köpfe ein und setzten ihre Gespräche fort. Ihre Welt war einen Augenblick lang aus allen Fugen geraten, doch nun ging alles wieder seinen gewohnten Gang, und sie verdrängten, was sie zu sehen geglaubt hatten. Sie waren noch nicht bereit für mich und meinesgleichen und die vielen anderen, die im Dunklen lauerten.
Es würde kommen, das wusste ich. Und falls Nerian noch lebte, dann kam es vielleicht sogar schneller, als ich gedacht hatte. Aber wenn er tatsächlich noch lebte, musste ich mich fragen, ob ich das große Erwachen der Menschheit überhaupt noch erleben würde.
Danaus zog den Dolch aus der Tischplatte und schob ihn in die Scheide an seiner linken Hüfte. Dann sammelte er rasch die Fotos zusammen und steckte sie wieder in die Tasche. Ich schaute zur Tanzfläche. Einer meiner Lieblingssongs hatte gerade begonnen; der Sänger versprach, mich niemals im Stich zu lassen. Sein zärtliches Gesäusel besänftigte mich, und ich musste unwillkürlich lächeln. Ich hatte schon oft mit dem Gedanken gespielt, diesem Sänger nachzustellen, der seine Gefühle derart vor aller Welt ausbreitete. Aber ich hatte auf die harte Tour lernen müssen, dass meinesgleichen häufig einen schlechten Einfluss auf die Künstler dieser Welt ausübten, und ich mochte seine Musik so, wie sie war. Heute Nacht wollte ich sein Versprechen mit mir nehmen, denn ich würde einen alten Höllensohn wiedersehen.
Die nächtliche Schwüle war drückend, und es regte sich kein Lüftchen, als hielte die Stadt aus Angst vor etwas Bedrohlichem den Atem an. Als ich das Docks verließ, widerstand ich dem Drang, meine Schultern zu lockern und die Anspannung von meinem Körper abzuschütteln. Es lagen zu viele Fragen in der Luft, auf die ich keine
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