Jägerin der Nacht 02 - Day Hunter
immer mehr von seinesgleichen entfernt hatte. Der Abstieg war langsam gewesen, und ich hatte mir eingeredet, dass er damit umgehen konnte. Gabriel war das schließlich auch gelungen. Der Engel, der mir noch geblieben war, hatte mir seit mehr als zehn Jahren ohne irgendwelche negativen Auswirkungen als Leibwächter gedient.
Aber Gabriel hatte immer Wert darauf gelegt, noch ein normales Leben ohne mich aufrechtzuerhalten. Mehr als einmal war ich kurz in seinen Geist getaucht und hatte die Dinge gesehen, die ihm Spaß machten. Gabriel freute sich darauf, am Sonntag Football zu schauen und mit Freunden in einer Kneipe um die Ecke zu trinken. Er ging aus und hatte Beziehungen. In Michaels Kopf sah ich solche Dinge nie. Dort war nur Platz für mich gewesen.
Menschen hielten es nicht lange durch, wenn sie sich mit meinesgleichen einließen. Eine Zeit lang lief alles gut, aber irgendwann gab es für ihren schwachen Körper und Geist doch nur zwei Möglichkeiten: Tod oder Wiedergeburt. Ich hätte meinen Schutzengel jederzeit vor seinem Schicksal bewahren können, aber ich hatte es nicht über mich gebracht, ihm die Freiheit zu schenken. Es mochte ein Naturi gewesen sein, der die Klinge geführt hatte, die Michaels Seele befreit hatte, aber ich war es gewesen, die die Falle aufgestellt und den Köder ausgelegt hatte.
Venedig. Europas ultimative Touristenfalle voller klischeehafter Gondolieri und taubenbedeckter Piazzas. Venedig, das war, wie wenn man einer großen Dame der Gesellschaft dabei zusah, wie sie langsam verwelkte und starb. Die Stadt war erfüllt von schnatternden, lärmenden Touristengruppen mit kleinen klickenden Kameras, die sich auf dem Markusplatz drängelten und vor der Basilika den Mund aufsperrten. Dann ging es runter zum Rialto und zum Freilichtmarkt. Machte sich denn keiner von denen die Mühe, den Giudecca-Kanal zu überqueren oder durch die stille Schönheit des Campo Santa Margherita zu flanieren? Oder sich gar in eins der besten Restaurants von San Polo vorzuwagen?
Während meiner Reisen mit Jabari hatte ich viele Nächte damit verbracht, die engen Gassen von La Serenissima zu durchstreifen. Ich war begeistert vom pulsierenden Nachtleben in Dorsoduro, wo die Studierenden der umliegenden Universitäten ausgingen. Ich war begeistert von der dicht besiedelten Insel Burano mit ihren bunt bemalten Häuschen. Aber am allerliebsten nahm ich ein Wassertaxi nach Torcello im nördlichen Teil der Lagune. Hier war Venedig vor Hunderten von Jahren geboren worden, jetzt war davon kaum mehr als eine Geisterstadt übrig, deren Einwohnerzahl von zwanzigtausend auf weniger als dreißigtausend gesunken war. Die Straßen von Torcello bestanden nur noch aus Staub und brüchigem Kopfsteinpflaster, und die meisten Gebäude hier waren abgerissen worden, damit man das Baumaterial anderswo verwenden konnte. Aber gerade diese bröckelnden Fassaden und das öde, verwilderte Land boten mir eine stille Zuflucht vor meiner Welt. Auf dieser nahezu vergessenen Insel war ich sogar tagsüber geblieben und hatte in der dunklen, stillen Ecke eines verlassenen Gebäudes geschlafen.
Aber ich bezweifelte, dass ich diesmal Zeit haben würde, über die altehrwürdigen Gehwege zu wandern.
Als wir aus dem Flugzeug stiegen, erwartete uns bereits eine Kontaktperson. Ein großer, schlanker Nachtwandler stand nicht weit entfernt von der privaten Landebahn des Marco-Polo-Flughafens, auf die unser Jet gerollt war. Ich kannte ihn bereits von meinen letzten Besuchen in Venedig. Der Vampir war gerade dabei, Fussel von seinem dunklen Armanianzug zu pflücken, und wirkte unfassbar gelangweilt von seinem augenblicklichen Auftrag. Davon ließ ich mich aber nicht täuschen. Lakai des Konvents war eine gefragte Stellung, eine, die sicher niemand verspielen wollte.
Als ich aus dem Flugzeug stieg, musterte ich nervös den Himmel. Der Sonnenaufgang war nur noch zwei Stunden entfernt, und wir mussten uns immer noch mit den Formalitäten der Landung in Venedig herumschlagen, dem Nachtwandler-Paradies schlechthin. Hätten wir nicht unter solchem Zeitdruck gestanden, hätte ich mit dem Aufbruch nach Venedig nur zu gern bis zum morgigen Sonnenuntergang gewartet.
Der Nachtwandler im Armanianzug kam lässig zu uns herübergeschlendert, als Danaus an meine Seite trat. Ich hatte ihm die Pistolen und das Schwert zurückgegeben. Falls ich wieder Naturi jagen musste, würde ich mir den Browning und die Glock zurückholen. Im Moment hatte ich nicht die geringste Idee,
Weitere Kostenlose Bücher