Jägerin des Herzens
Eibenhecken unterteilten ihn in mehrere Abschnitte. Es gab einen Kapellengarten mit einem Bach und einem runden Teich mit weißen Lilien. Er ging in den Rosengarten über, wo eine Vielzahl von Blumen einen großen, seltenen Ayrshire-Rosenbusch umrahmte. Lily ging an einer Mauer entlang an der wilder Wein und Kletterrosen wuchsen. Dann stieg sie verwitterte Stufen zu einer Terrasse hinauf, von der aus man über einen künstlichen See blickte. In der Nähe war ein Brunnen, um den ein Dutzend Pfauen herum pickten. Über dem Garten lag absoluter Frieden. Er wirkte wie ein verzauberter Ort, an dem nie etwas geschehen konnte.
Aufmerksam betrachtete sie eine kleine Anpflanzung von Obstbäumen an der Ostseite des Parks. Ihr Anblick erinnerte Lily an die Zitronenbäume im Garten der italienischen Villa, in der sie zwei Jahre lang gelebt hatte. Sie und Nicole hatten die meiste Zeit im Garten oder in der säulenumrahmten Loggia an der Rückseite des kleinen Hauses verbracht. Manchmal war sie mit Nicole in dem schattigen kleinen Wald in der Nähe spazieren gegangen.
»Denk nicht daran!«, flüsterte sie. »Nicht!« Aber die Erinnerung war so klar, als wäre alles erst gestern passiert. Sie setzte sich an den Rand des Brunnens und zog den Schal fester um sich. Blicklos wandte sie ihr Gesicht zu den fernen Wäldern hinter dem See und erinnerte sich …
»Domina! Domina! Ich hab die schönsten Sachen vom Markt mitgebracht – Brot und weichen Käse und guten Wein. Pflück noch etwas Obst im Garten, dann können wir zum Essen …«
Lily blieb stehen, als sie die ungewohnte Stille im Haus bemerkte. Ihr fröhliches Lächeln schwand. Sie stellte den Korb an der Tür ab und eilte in das kleine Haus. Wie die einheimischen Frauen trug sie einen Baumwollrock und eine langärmelige Bluse und hatte ihre Haare mit einem Kopftuch bedeckt. Wegen ihrer dunklen Locken und ihrer makellosen Aussprache wurde sie o für eine Italienerin gehalten. »Domina?«, fragte sie vorsichtig.
Plötzlich erschien die Haushälterin, ihr sonnengegerbtes, faltiges Gesicht war tränenüberströmt. Sie sah völlig zerzaust aus, ihr grauer Zopf war aufgelöst. »Signorina«, keuchte sie und sprudelte so unzusammenhängendes Zeug hervor, dass Lily sie nicht verstand.
Sie legte den Arm um die runden Schultern der alten Frau und versuchte, sie zu beruhigen. »Domina, sag mir, was geschehen ist. Geht es um Nicole? Wo ist sie?«
Die Haushälterin begann zu schluchzen. Es musste etwas geschehen sein, etwas so Grässliches, dass es nicht in Worte gefasst werden konnte. War ihr Kind krank? Hatte es sich verletzt? Erschrocken ließ sie Domina los und rannte zur Treppe, die ins Kinderzimmer führte. »Nicole?«, rief sie. »Nicole? Mama ist hier, es ist alles …«
»Signorina, sie ist weg!«
Lily erstarrte am Fuß der Treppe. Halt suchend ergriff sie das Geländer. Sie blickte Domina an, die sichtlich zitterte.
»Was meinst du damit?«, fragte sie rau. »Wo ist sie?«
»Es waren zwei Männer. Ich konnte sie nicht aufhalten. Ich habe es versucht. Dio mio … sie haben unser Baby mitgenommen. Es ist weg.«
Lily hatte das Gefühl, sich in einem Alptraum zu befinden. Nichts ergab einen Sinn. »Was haben sie gesagt?«, fragte sie mit erstickter Stimme. Domina begann wieder zu schluchzen, und fluchend eilte Lily auf sie zu.
»Verdammt noch mal, hör auf zu weinen. Ich will wissen, was sie gesagt haben!«
Domina trat einen Schritt zurück, erschreckt über Lilys verzerrtes Gesicht. »Sie haben nichts gesagt.«
»Wohin haben sie Nicole gebracht?«
»Ich weiß es nicht.«
»Haben sie irgendetwas hinterlassen, eine Nachricht?«
»Nein, Signorina.«
Lily starrte in das tränenüberströmte Gesicht der alten Frau. »Oh, das ist nicht wirklich geschehen, das ist nicht…«
Panisch lief sie ins Kinderzimmer. Siefiel auf die Knie, stieß sich das Schienbein an, aber sie spürte den Schmerz nicht. Das kleine Zimmer sah genauso aus wie immer. Spielzeuge lagen auf dem Boden, ein zerknittertes Kleid hing über einem Schaukelstuhl. Die Wiege war leer. Lily presste eine Hand auf den Bauch und die andere über ihren Mund. Sie war zu entsetzt, um zu weinen, aber ein herzzerreißender Schrei entrang sich ihrer Kehle. »Nein!
Nicole … Neiiin …«
Abrupt befand sich Lily wieder in der Gegenwart. Es waren jetzt mehr als zwei Jahre seit damals vergangen. Zwei Jahre. Sie fragte sich, ob Nicole sich wohl noch an sie erinnerte. Ob sie überhaupt noch am Leben war. Bei dem
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