Jägerin des Herzens
seltsamen Erscheinung der Boten, die sie überbrachten. Es waren immer zerlumpte Straßenjungen.
»Lass ein Pferd für mich satteln«, sagte Lily.
»Miss Lawson, ich halte es nicht für ratsam, dass eine Frau alleine durch London reitet vor allem nicht nachts …«
»Sag einer der Zofen, sie soll meinen grauen Umhang bringen. Den mit der Kapuze.«
»Ja, Miss.«
Langsam ging sie die Treppe hinunter und hielt sich am Geländer fest.
Covent Garden war eine besonders widerwärtige Gegend in London. Alles dort hatte seinen Preis, und überall wurde geworben. An jeder Wand klebten gedruckte Offerten und Anzeigen, und die Gauner, Zuhälter und Straßendirnen riefen jedem Passanten Einladungen zu. Junge Kerle schwankten mit ihren Bekanntschaften für eine Nacht betrunken aus den Theatern in die Tavernen. Lily bemühte sich, sie zu meiden. Ein betrunkener Lord konnte manchmal genauso gefährlich und unmenschlich sein wie ein brutaler Ganove.
Während sie durch die Straßen ritt empfand sie Mitgefühl für die Prostituierten. Alles war vertreten, von jungen bis hin zu verbrauchten alten Frauen. Sie waren dünn vor Auszehrung oder aufgeschwemmt vom Gin. Und alle hatten den gleichen erschöpften Ausdruck im Gesicht während sie auf den Stufen hockten und die Kunden geschäftsmäßig anlächelten. Wenn sie eine andere Wahl gehabt hätten, hätten sie sicher nicht diesen Beruf ergriffen.
Lily erschauerte. Sie würde sich eher umbringen, als so ein Leben zu führen, selbst nicht das Leben einer Kurtisane, die Diamanten trug und ihre Dienste auf seidenen Laken anbot. Ihre Lippen kräuselten sich verächtlich. Besser tot als im Besitz eines Mannes und gezwungen, seine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen.
Bei ihrem Ritt durch die King Street kam sie am Friedhof vorbei. Sie ignorierte die Pfiffe und Rufe, mit denen sie bedacht wurde. Vorsichtig überquerte sie die Straße an der Markthalle. Der Eingang der zweistöckigen Arkaden wurde von toskanischen Granitsäulen flankiert was an einem solchen Ort seltsam prächtig wirkte. Sie zügelte ihr Pferd und blieb im Schatten stehen. jetzt konnte sie nur noch warten. Wehmütig lächelnd beobachtete sie ein paar junge Taschendiebe, die sich durch die Menge drängten. Dann dachte sie an Nicole. Ihr Gesicht würde steinern.
Mein Gott, was für ein Leben mochte sie jetzt führen? Wurde sie auch schon als Kriminelle angelernt? Bei dem Gedanken traten ihr Tränen in die Augen, und sie wischte sie mit einer heftigen Bewegung ab. Sie durfte jetzt nicht ihren Gefühlen nachgeben. Sie musste kühl und selbstbeherrscht bleiben.
Eine träge Stimme erklang aus der Dunkelheit. »Da bist du ja. Ich hoffe, du bringst was ich will.«
Langsam stieg Lily vom Pferd und packte die Zügel mit einer Hand. Sie wandte sich nach der Stimme um und zwang sich, ruhig zu sprechen, obwohl sie am ganzen Körper zitterte.
Nichts mehr, Giuseppe. Keinen Penny mehr, bevor du mir meine Tochter zurückgibst!«
Kapitel 7
Graf Giuseppe Gavazzi sah aus, als sei er einem italienischen Renaissance-Gemälde entsprungen – ein ausgeprägtes Gesicht lockige schwarze Haare, olivfarbene Haut und sprühende schwarze Augen. Lily dachte daran, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Giuseppe hatte auf einer sonnenbeschienenen Florentiner Piazza gestanden, umgeben von einer Gruppe italienischer Frauen, die an seinen Lippen hingen. Angesichts seines strahlenden Lächelns und seiner dunklen Schönheit hatte Lily der Atem gestockt. Ihre Wege hatten sich bei zahlreichen gesellschaftlichen Ereignissen wieder gekreuzt und Giuseppe hatte begonnen, leidenschaftlich um sie zu werben.
Lily hatte sich von der romantischen Atmosphäre in Italien und der noch nie zuvor erfahrenen Erregung von einem gut aussehenden Mann umworben zu werden, überwältigen lassen. Harry Hindon, ihre einzige andere Liebe, war eher nüchtern und äußerst britisch gewesen. Er hatte Eigenschaften besessen, die ihren Eltern gefallen hatten. Sie hatte gedacht dass Harrys Besitzdenken sie beeinflussen und retten würde. Stattdessen hatte er sie wegen ihrer Wildheit verlassen. Aber Graf Gavazzi schien ihr Ungestüm zu genießen – er hatte sie aufregend und wunderschön genannt. Damals schien es so, als habe sie endlich den Mann gefunden, bei dem sie alle Vorbehalte fallen lassen konnte. Jetzt widerte sie der Gedanke an ihre Dummheit an.
In den vergangenen Jahren hatte sich Giuseppes Aussehen etwas vergröbert – aber vielleicht lag es auch nur daran,
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