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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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und der dicke Mann in der grauen Jacke steckte den Kopf
herein. »Servus, Vickerl«, sagte er und schaute dabei mich an. »Braucht’s ihr
noch lang?« Seine Stimme klang asthmatisch.
    Viktor ließ das Gewehr sinken. »Bin schon fertig, Hias.« Dann schien er
es sich anders zu überlegen. Er machte eine Kopfbewegung in meine Richtung.
»Die Frau Dr. Canisius macht nur gerade noch einen Probeschuss.«
    Der Dicke nickte wortlos und ging wieder hinaus.
    »Ich mache doch keinen Probeschuss«, sagte ich.
    Viktor stand auf. Er wandte sich an die Zuschauer, hob das Gewehr wie ein
Zauberkünstler und hielt es mir dann demonstrativ hin. »Na los, nimm schon.«
    »Ich schieße nicht.«
    »Ich denke, du willst es uns Dörflern zeigen?«
    »Aber doch nicht mit der Knarre in der Hand.«
    »Wenn du jetzt schießt, gewinnst du mehr Ansehen als mit jeder Wunderheilung.«
In seinen Augenwinkeln saßen Lachfältchen. »Oder hast du etwa Angst?«
    Feigheit hatte mir noch niemand vorwerfen können. Ich packte das Gewehr
am Schaft. Sofort kippte der Lauf nach vorn, und fast wäre mir die Waffe
entglitten. Instinktiv griff ich unter das Magazin. Jetzt war das Gewehr
ausbalanciert und lag so gerade wie ein Waagbalken in meiner Hand.
    »Na bitte, geht doch.« Viktor zog den Patronencontainer zu sich heran.
»Völlig wurscht, ob du triffst. Ich stell mich vor die Anzeige.« Er drückte
eine Patrone heraus und wog sie in der Hand. »Also, was ist?«
    Die Münder der Männer hinter dem Fenster bewegten sich nicht mehr, alle
Augen waren auf mich gerichtet. Niemand wollte sich das Spektakel entgehen
lassen. Viktor hatte recht. Hier konnte ich gleich Kompetenz in einer
Männerdomäne demonstrieren. Wenn ich jetzt kniff, war meine Chance vorbei. Ich
wandte mich an mein Publikum und lächelte so charmant und siegesgewiss wie
möglich. Dann hielt ich Viktor das Gewehr zum Laden hin.
    »Du musst das Sicherungsrad drehen, bis der rote Punkt aufleuchtet«,
sagte er. »Erst dann ist die Waffe scharf, und du kannst schießen.« Er legte den
Zeigefinger an den Lauf. »Dieses Gewehr hat einen Druckpunktabzug. Beim
Abziehen wirst du einen kleinen Widerstand spüren. Einfach weiter durchdrücken,
klar?« Er richtete den Lauf auf das Reh. »Und ziel, um Gottes willen, nicht
wieder auf mich.«
    Viktor steckte das Kinn in den Kragen seiner Daunenweste. Hatte ihn unser
Gespräch verletzt? Schließlich war auch er ein Teil der modernen
Dorfgemeinschaft. Er reichte mir den Gehörschutz, setzte selber seinen auf und
lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Ablage. Sein Mund war gespitzt,
als wollte er pfeifen.
    Ich setzte mich auf den Hocker, legte den Lauf auf das Lederkissen und
schob ihn nach vorn, so wie ich es bei Thurner gesehen hatte. Ich drehte das
Sicherungsrad auf Rot. Dann beugte ich mich über das Gewehr und spähte durch
das Zielfernrohr. Vor mir verschwamm die Linse in Weiß und Grau wie in einem
Zerrspiegel. Wo war das Reh? Mein altes Fernglas fiel mir ein, an dem man die
Schärfe mittels eines kleinen Rades einstellen konnte. Ich tastete ein wenig
herum, fand das Rädchen auf dem Zielfernrohr und drehte daran. Aus dem Nebel
tauchte das Reh auf. Es stand so nah vor mir, dass ich meinte, es greifen zu
können. Aus großen Augen schaute es mich an. Ich legte das Fadenkreuz im Sucher
und das Kreuz auf seiner Schulter exakt übereinander.
    Die Blicke der Zuschauer brannten in meinem Rücken, aber ich ignorierte
sie. Ich dachte an den Mann, der mehrere Nächte vor meiner Tür herumgeschlichen
war. Der mir am Gang aufgelauert, mich zu Boden geschlagen und halb bewusstlos
in mein Zimmer zurückgezerrt hatte.
    Ich legte den Zeigefinger an den Abzug. Er war kalt und glatt und
schmiegte sich angenehm an meine Haut. Ich atmete langsam und entspannte mich,
um jede unkontrollierte Muskelbewegung zu vermeiden. Dann zog ich die kleine
Metallzunge bis zum Druckpunkt, hielt die Luft an und drückte den Abzug durch.
Die Stärke des Rückstoßes und der darauf folgende Knall trafen mich
unvorbereitet. Ich blieb wie gelähmt über das Gewehr gebeugt. Das Blut in meinen
Ohren rauschte. Jemand klopfte mir auf die Schulter. Ich hob den Kopf. Viktor.
    Ich richtete mich auf und nahm den Gehörschutz ab. »Na?«, fragte ich
betont lässig und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. »Irgendwas
getroffen?«
    Viktor deutete wortlos auf das Display. Ein Zehner mit einem Punkt
dahinter. Er drehte sich zu den Zuschauern und hielt den Daumen hoch. Die Tür
ging auf, aber

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