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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ines Eberl
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entgegenzusehen.
    In Alpbach, so stellte ich fest, wurde früh gestorben. Wer im letzten
Jahrhundert die Kindheit überlebt hatte, verschied oft schon mit gut vierzig
Jahren. Die Grabinschriften teilten mir die Gründe mit. Unser Vater, bei der Holzarbeit heimgeholt … Ewiges Gedenken
an Anna Meier, Mutter von dreizehn Kindern … Geliebte Söhne, den Heldentod gestorben fürs Vaterland  … Erst in den letzten
Jahrzehnten hatte sich die Lebenserwartung im Dorf erhöht.
    Das Grab der Familie Munz befand sich hinter der Kirche, direkt an der
Friedhofsmauer. Ich betrachtete das hohe, von einem Strahlenkranz umgebene
Eisenkreuz. Eine Tafel besagte, dass vier Mitglieder der Familie in diesem Grab
ruhten – nein, eigentlich nur drei. Der Name des vierten stand, noch ohne
Zeitangaben, unter denen der anderen.
    Auch hier hing das bräunliche Foto eines aufgebahrten Kleinkindes. Es
trug ein langes weißes Kleid, und blonde Locken umrahmten ein stilles
Gesichtchen mit wie im Schlaf geschlossenen Augen. Ein Rosenkranz war um die
auf der Brust gefalteten Händchen geschlungen. Antonia Munz, so las ich, war
vor fast fünfzig Jahren gestorben. Sie war nur zwei Jahre alt geworden.
    Das Bild darunter kannte ich schon. Es war das Porträt des langhaarigen
jungen Mannes aus der Zeitung. Simon Munz war im Alter von vierundzwanzig
Jahren von dieser Erde gegangen. Unter dem Sterbedatum, dem 29. Oktober
1968, stand: »Das Gute wiegt das Böse auf. Der Himmel wird mein Lohn.«
Vielleicht war dem Selbstmörder im Diesseits Unrecht geschehen, und er hatte
auf Gerechtigkeit im Jenseits gehofft.
    Ein paar Meter vor mir knirschten Schritte auf dem Kies. Ich schaute auf
und sah den Pfarrer durch die Gräberreihen gehen. Hier und da blieb er stehen
und musterte ein Grab. Seine Soutane bewegte sich sacht im Wind, der innerhalb
der Friedhofsmauer nur mit verminderter Kraft wehte. Es war nicht mehr weit bis
Allerheiligen. Vielleicht überprüfte der gute Mann vor dem Feiertag den Zustand
der Gräber.
    Das letzte Bild an dem Eisenkreuz war eine in Folie eingeschweißte
Schwarz-Weiß-Fotografie. Es zeigte eine hübsche, etwa dreißig Jahre alte blonde
Frau in schwarzer Tracht. Offenbar handelte es sich um ein Jugendfoto, denn
laut Sterbedatum war diese Antonia Munz zweiundachtzig Jahre alt geworden. Die
Frau war offenbar die Mutter von Simon und der kleinen Antonia und – sie
war erst vor acht Wochen begraben worden. Was für ein Schicksal, erst die
Tochter im Kindesalter und dann den Sohn durch Selbstmord zu verlieren.
    Die Schritte des Pfarrers kamen näher. Der letzte der vier Namen war
Gregor Munz. Doch da noch nicht einmal das Geburtsdatum eingraviert war, konnte
dieser Gregor sowohl der Witwer als auch der Sohn der blonden Frau sein. Ob er
noch im Ort lebte?
    »Grüß Gott, Frau Canisius.« Der Pfarrer ließ seinen Blick über das Familiengrab
wandern. »Betreiben Sie Patientengeschichte, oder interessieren Sie sich für
die Familie Munz?«
    »Weder noch.« Auf einmal kam mir mein Interesse unpassend vor, und ich
hatte das Gefühl, mich für meine Anwesenheit rechtfertigen zu müssen. »In der
Zeitung wurde heute ein Simon Munz erwähnt.«
    Der Geistliche neigte den Kopf ein wenig zur Seite und schaute mich
fragend an. Unter seiner Soutane trug er einen schwarzen Rollkragenpullover.
    »Im Zusammenhang mit dem Mord an meinem Wirt.«
    »Richtig …« Seine Augen verengten sich. Entweder reizte ihn der
Föhnwind, oder die Sonne blendete ihn. »Sie wohnen ja im Jagawirt. Erst
letztens habe ich mit der Steiner Hansi über Sie gesprochen.« Sein Mund verzog
sich zu einem Lächeln. »Sie wollen uns bei unserer Rumänienhilfe unterstützen.
Vergelt’s Gott!« Er faltete die Hände vor dem Bauch. »Schrecklich, die Sache
mit dem Vinzenz, einfach furchtbar. So weit ich mich zurückerinnern kann, hat’s
in Alpbach kein Gewaltverbrechen gegeben. Und jetzt gleich zwei.«
    »Zwei?«
    »Natürlich.« Er klang ehrlich erstaunt. »Sind Sie nicht selbst überfallen
worden? Zumindest wurde bei der letzten Gemeinderatssitzung …«
    »Ach so, ja, das.« Ich fragte mich, welche Themen bei diesem Alpbacher
Forum wohl nicht besprochen wurden, und schaute demonstrativ zum Kirchturm
hinauf, wo die goldenen Zeiger der großen Uhr in der Sonne glühten. »Schon bald
Mittag – ich fürchte, ich muss los.« Ich streckte die Hand aus. »Verfügen
Sie über mich, was die Rumänienhilfe betrifft.«
    Der Pfarrer ergriff meine Hand und hielt sie fest. »Frau

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