Jagdhunde (German Edition)
hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden nur wenig Schlaf bekommen und musste versuchen, ein bisschen davon nachzuholen.
Sie ließ sich in den Sessel sinken, schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle, ohne etwas Interessantes zu finden. Dann stand sie wieder auf, zog den Vorhang ein wenig zur Seite und stellte sich mit verschränkten Armen vors Fenster. Der ewige Regen ließ die Tropfen auf der Scheibe zu kleinen Perlen werden und verwischte die Konturen der Welt draußen.
Ein Notarztwagen fuhr unter ihr mit eingeschaltetem Blaulicht die Straße entlang, als es an der Tür klopfte. Auf dem Weg zur Tür hob Line das Handy auf. Sie öffnete, wich aber schnell einen Schritt zurück.
Es war nicht der Polizist, der da vor ihr stand. Es war Tommy.
Sie hatte ihn seit fast drei Monaten nicht gesehen. Zwei Jahre hatten sie zusammengewohnt, sich aber dann im letzten Herbst in einer Art stillem Einverständnis, dass es so wohl besser wäre, getrennt. Gleichwohl war es ihr schwerer gefallen, als sie vermutet hätte. Nach der Trennung hatte sie angefangen, alle Männer mit Tommy zu vergleichen. Er war durch und durch ihr Typ: auf angenehme Weise entspannt, intellektuell und kulturinteressiert. Noch immer gab es etwas an ihm, das sie faszinierte. Er hatte eine ungehemmte Wesensart und strahlte eine Mischung aus Ruhe und Wildheit aus, die ihr das Gefühl gab, dass er sowohl gefährlich als auch vertrauenswürdig war. Doch die impulsive, unbekümmerte und unbedachte Seite an ihm hatte sie auch unsicher werden lassen. Die physische Anziehungskraft zwischen ihnen hatte allerdings nie bestritten werden können. Noch nie zuvor hatte Line etwas Ähnliches erlebt, was sie gleichermaßen faszinierte und ängstigte.
Tommy hatte die Hände in die Hosentaschen geschoben, hielt den Kopf leicht schräg und sah sie fragend an. »Wie geht’s dir?«
Sie ließ ihn nicht hereinkommen, umarmte ihn aber draußen auf dem Gang. Genoss es, seinen Körper dicht an ihrem zu spüren. »Was machst du hier?«, flüsterte sie.
»Ich musste einfach wissen, wie’s dir geht«, erwiderte er und schob sie leicht von sich, um sie ansehen zu können.
»Aber wie hast du mich denn gefunden?«
»Es steht ja in der Zeitung, dass du in Fredrikstad bist«, sagte er mit einem Lächeln. »So viele Hotels gibt es hier auch nicht.«
Sie erwiderte sein Lächeln und trat einen Schritt zurück in das Zimmer hinein.
Er folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. »Wie geht’s dir?«, fragte er noch einmal.
»Gut«, antwortete sie. »In meinem Kopf herrscht gerade ein bisschen Chaos, aber es geht mir gut.«
Tommy umfasste ihre Handgelenkte und sah sie forschend an. »Du bist von einem Mörder überfallen worden«, sagte er. »Hast du mit jemandem darüber geredet?«
»Es geht mir gut«, wiederholte sie und wandte den Blick ab. »Ich habe mit der Polizei und der Zeitung gesprochen. Sie haben mir einen Krisenpsychologen und all so was angeboten, aber das ist nicht mein Stil.«
»Ich weiß«, gab Tommy zurück, ließ sie aber nicht los. »Was ist mit deinem Vater? Hast du mit ihm geredet?«
Line nickte wortlos. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass sie die Ruhe, die sie nach dem Überfall verspürt hatte, wohl von ihrem Vater geerbt haben musste. Eine Ruhe, die sie befähigte, das Geschehene auf Abstand zu halten und die Gefühle nicht Oberhand gewinnen zu lassen.
»Es tut gut, dich zu sehen«, sagte Tommy und zog sie an sich, sodass ihr Kopf zwischen seinem Kinn und seiner Schulter ruhte.
Line spürte seine Brustmuskeln und schob eine Hand zu seinem Nacken hinauf. Sein dunkles Haar fiel über den Hemdkragen. Weich wie es war, wickelte sie es um ihre Finger.
Er schob sie ein wenig von sich, lächelte zögernd, beugte sich hinunter und küsste sie auf die Stirn.
»Was hast du denn da?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf ihre andere Hand.
Sie hielt ihm das Modellauto entgegen. »Einen Beweisgegenstand«, erwiderte sie lächelnd.
Im selben Moment klopfte es an der Tür. Sie wandte sich um und öffnete. Einer der Angestellten aus dem Hotelrestaurant stand im Gang. Er hielt ein Tablett mit Obst, Keksen, Käse und einer Flasche Wein in den Händen.
»Äh, ich habe doch gar nichts …«, setzte sie an, drehte sich dann aber zu Tommy um.
»Stellen Sie es bitte hierhin«, bat er.
Line ließ den Kellner eintreten und bemerkte plötzlich, dass sie hellwach war. Tommy nahm die Weinflasche entgegen und gab dem Kellner einen Hunderter als
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