Jagdhunde (German Edition)
Möglicherweise aus diesem Grund hatte Wisting die Bilder nie gesehen, sondern nur den Arztbericht gelesen.
Rudolf Haglund stand mit entblößtem Oberkörper da. Er war blass, wirkte aber muskulös und sehnig. Sein Gesicht hatte denselben müden Ausdruck, an den sich Wisting aus den Vernehmungen erinnerte.
Die anderen Bilder waren Nahaufnahmen seiner Hände, Arme und weiterer Körperteile.
»Was ist das hier?«, fragte Wisting und zeigte auf das Foto einer alten Narbe, die auf der Innenseite von Haglunds Schenkel prangte.
»Eine Operationsnarbe«, erläuterte Haber. »Er hatte drei solcher Narben, nachdem er sich ein paar Muttermale wegoperieren ließ. Er hatte Hautkrebs.«
Das war neu für Wisting. Er konnte sich nicht erinnern, gehört zu haben, dass Rudolf Haglund krebskrank gewesen war. Die Narbe allerdings schien alt zu sein und normalerweise wurden Informationen über den Gesundheitszustand bei den Ermittlungen in einer Strafsache nicht berücksichtigt.
Auf einem weiteren Foto, das anscheinend gemacht worden war, um die Lichtverhältnisse zu überprüfen, waren die beiden Ermittler, die Haglund zur Untersuchung gebracht hatten, mit auf dem Bild.
Es waren Nils Hammer und Frank Robbek.
Das Blitzlicht spiegelte sich in einem von Robbeks Brillengläsern wider, aber dennoch konnte Wisting das, was ihm sofort aufgefallen war, in seinem Blick erkennen. Diese Leere, die es Robbek dann unmöglich gemacht hatte, als Polizist weiterzuarbeiten. Nils Hammers Blick war völlig anders, beinahe triumphierend. Lächelnd entblößte er die Zähne und seine Augen leuchteten wie bei einem dressierten Jagdhund, der dem Jäger die Beute brachte.
»Nimm sie ruhig mit, falls du sie irgendwie gebrauchen kannst«, sagte Haber.
Wisting legte die Fotos zurück, schloss die Schachtel und klemmte sie unter seinen Arm.
40
Finn Haber folgte Wisting hinaus zum Wagen. Der Himmel hatte aufgeklart, doch es war kühler geworden.
Als Wisting wieder hinter dem Lenkrad saß, dachte er an Suzanne. Er hatte das Gefühl, sie ungewollt in eine unangenehme Situation gebracht zu haben. Er musste mit ihr reden, sie dazu bringen, aufrichtig zu sein und zu sagen, was sie eigentlich über ihn dachte. Gleichzeitig jedoch merkte er, dass er diese Unterhaltung nicht gerade jetzt führen wollte.
Stattdessen fuhr er hinaus in Richtung Brekke und kam zu der Abzweigung, die hinunter nach Ruglandstranda und dem Sommerhaus der Familie Linde führte.
Das letzte Stück des zum Haus führenden Weges war durch ein Tor abgetrennt. Wisting musste den Wagen stehen lassen und den Rest zu Fuß gehen.
In den ersten Wochen nach Cecilias Verschwinden war er jeden Tag hier draußen gewesen, nur um der Familie Linde zu berichten, dass es nichts Neues gab. Inzwischen wirkte der Ort noch stiller und einsamer als damals schon. Die regenschwere Luft schien alles abzudämpfen.
Der Landsitz bestand aus mehreren Gebäuden. Das Haupthaus war ein zweistöckiges, weiß gestrichenes Kapitänshaus mit grünen Fensterläden, Walmdach, hervorstehenden Erkern und verblichenen roten Dachziegeln. Rosen und wilder Efeu kletterten an den Wänden empor.
Eine Krähenschar erhob sich von den Bäumen in der Nähe und schimpfte ihn aus, während er sich langsam dem Besitz näherte.
Der mit Steinplatten bedeckte Weg zum Haus war von Unkraut überwuchert. Was einst ein Garten gewesen war, bestand nur noch aus herbstbraunem Gras. Ein runder Gartentisch stand auf dem Kopf und war von meterhohen Brennnesseln umgeben. Mitten auf dem Grundstück stand ein Fahnenmast mit den Resten eines blauen Wimpels an der Spitze. Das Tau peitschte im Rhythmus mit dem Wind gegen die Stange. Auf dem blauen Wimpel war der Buchstabe C des Firmennamens Canes gerade noch zu erkennen. Der Rest war von Wind und Wetter ausgelöscht worden.
Der einst so schöne Sommersitz stand nicht nur leer, sondern war vollkommen verlassen. Seit jenem Sommer vor siebzehn Jahren war Familie Linde anscheinend überhaupt nicht mehr hier gewesen.
Wisting ging zu einem der verschmutzten Fenster und legte die Hände an die Scheibe. Die Fensterbank war voller Spinnweben und toter Fliegen, die auf dem Rücken lagen und deren Beine in die Luft ragten. Die verblichenen Vorhänge waren zugezogen, doch durch einen schmalen Spalt konnte Wisting einen Blick in die Vergangenheit werfen. Schwere Kiefernmöbel mit fein gewebten Bezügen, die bäuerliche Farben und Muster aufwiesen. Brusthohe Wandverkleidungen und mahagonifarbene Wände.
An der
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