Jagdhunde (German Edition)
hierbleiben?«
»Noch mindestens zwei Stunden. Suzanne ist im Café.«
»Hast du heute mit ihr gesprochen?«
Wisting schüttelte den Kopf.
»Du solltest auf dem Heimweg mal bei ihr vorbeischauen«, schlug Line vor.
Wisting stand auf und begleitete seine Tochter zur Tür. »Ja, vielleicht«, erwiderte er und trat hinaus auf die Terrasse. Durch einen Riss in der Wolkendecke warf der Mond sein blasses Licht auf die Umgebung.
Line umarmte ihren Vater.
Im selben Moment klingelte sein Handy, das in der Hütte lag. Er winkte ihr nach und folgte dem Klingelgeräusch. Das Handy musste ihm aus der Hosentasche gerutscht sein, als er im Sessel gesessen hatte. Schließlich fand er es in dem Spalt zwischen Sitzfläche und Rückenlehne. Er streckte die Hand aus, berührte dabei die Handytasten und nahm den Anruf ungewollt entgegen, noch bevor er sehen konnte, wer ihn anrief.
»Hallo?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang alt.
Wisting hielt das Telefon ein Stückchen von sich weg und erkannte im Display eine Nummer, die er nicht gespeichert hatte. »Ja?«, gab er zur Antwort und nannte seinen Namen.
»Hier ist Steinar Kvalsvik«, stellte sich der Mann vor. »Ich war früher Oberarzt in der psychiatrischen Abteilung des Zentralkrankenhauses in Akershus.«
Wisting nickte. Er wusste, um wen es sich handelte. Der Anrufer hatte die rechtspsychiatrische Untersuchung von Rudolf Haglund durchgeführt. Damals hatten sie ein paar kurze berufliche Gespräche geführt, aber auch danach hatte Kvalsvik immer wieder mit Fällen zu tun gehabt, in denen psychiatrische Gutachten zur Feststellung der Zurechnungsfähigkeit erforderlich waren.
»Es geht um Rudolf Haglund«, fuhr der pensionierte Oberarzt fort. »Ich hab zwar nichts mehr mit der Sache zu tun, aber ich mache mir Sorgen.«
»Sie wissen, dass ich suspendiert wurde?«
»Formalitäten«, erwiderte der Arzt kichernd. »Aber ich weiß einfach nicht, an wen ich mich sonst wenden könnte.«
Wisting ging hinüber zu dem dunklen Wohnzimmerfenster. Er sah sein eigenes Spiegelbild, konnte aber das Meer und einen schmalen Streifen Mondlicht erahnen.
»Worum geht es denn?«
»Ich habe im Laufe der Jahre Hunderte von psychiatrischen Gutachten erstellt, bin aber nur selten einem Menschen wie Rudolf Haglund begegnet.«
»Was meinen Sie damit?«
»In dem Bericht kam das vielleicht nicht so deutlich zum Ausdruck und es ist auch nicht ganz so leicht in Worte zu fassen. Unsere Aufgabe war zu entscheiden, ob er im Sinne des Strafrechts zurechnungsfähig war. Das war er, und zwar sogar fast bis zur Grenze der Berechnung. Aber davon abgesehen gab es etwas an ihm, das ich als bedrohlich empfand.«
»Inwiefern?«
»Tja, das ist wirklich nicht einfach auszudrücken, aber wir verwendeten damals auch eine neu entwickelte Analysemethode, um das Risiko eines zukünftigen gewalttätigen Verhaltens einzuschätzen.«
Wisting räusperte sich, um anzudeuten, dass er zuhörte.
»Diese Methode umfasst bestimmte Variablen, die relevantes Verhalten in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfassen. Historischen oder statistischen Faktoren wird dabei dieselbe Bedeutung beigemessen wie der Kombination aus gegenwärtigen und zukünftigen klinischen Variablen der Risikohandhabung.«
»Und was haben Sie dabei herausgefunden?«, fragte Wisting, ohne genau zu verstehen, was die Ausführungen des Arztes beinhalteten.
»Rudolf Haglund lag bei dem Analyseverfahren im oberen Bereich. Er hatte schon früh gewalttätige Ausbrüche, ihm fehlt Empathie, er ist ein gesellschaftlicher Außenseiter, er hat negative Grundhaltungen, ist emotional instabil und hat eine mangelhafte Selbsteinschätzungsfähigkeit.«
»Und was bedeutet das?«
»Das Risiko eines gewalttätigen Verhaltens in der Zukunft wird oft daran gemessen, wie stark man der Gefahr ausgesetzt ist, in riskante Situationen zu geraten. Hat man also beispielsweise instabile Beziehungen oder ist Drogenmissbrauch im Spiel, erhöht sich das Risiko, wobei Haglund allerdings eher wie jemand erschien, der seine Handlungen plante.«
»Ja?«
»Ich erspare Ihnen besser das ganze Fachchinesisch«, schloss der Arzt ab. »Ich hatte zwar noch nie mit Serientätern zu tun, aber ich fürchte, dass er etwas Ähnliches wieder tun könnte. Jetzt, nachdem er wieder draußen ist.«
Wisting schluckte und beobachtete eine schwarze Wolke, die sich vor den Mond schob. »Dass er erneut jemanden entführen und töten könnte, meinen Sie?«
»Rudolf Haglund gehört zu
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