Jagdhunde (German Edition)
dem Typus, der seine Handlungen wiederholt. Er hat fast siebzehn Jahre im Gefängnis gesessen. Sehr wahrscheinlich ist er äußerst empfindlich für den Druck, für die Lüste also, die ihn schon einmal zu einer Handlung mit tödlichem Ausgang getrieben haben.«
»Du meine Güte! Sind Sie sich da sicher?«
»Die Psychiatrie ist keine exakte Wissenschaft. Und ich hätte mich auch sicherlich nicht gemeldet, wenn es da nicht dieses Mädchen gäbe, das verschwunden ist. Linnea Kaupang.«
»Und was ist mit Handlungen in der Vergangenheit?«, fragte Wisting und dachte dabei an Ellen Robbek. »Kann er so etwas schon einmal getan haben?«
»So etwas lässt sich nur schwer eindeutig beantworten, aber der Mord an Cecilia Linde war wohl kaum eine Ersthandlung. Wahrscheinlich hat er schon früher extreme Gewalt ausgeübt.«
Wisting hatte plötzlich das Gefühl, unter Zeitdruck zu stehen. »Ich werde den verantwortlichen Ermittler im Linnea-Fall bitten, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen«, sagte er. »Dann müssen Sie ihm alles erzählen, was Sie mir gerade gesagt haben.«
»Selbstverständlich«, stimmte der Psychiater zu. »Aber der Ordnung halber möchte ich noch sagen, dass diese düstere Prognose natürlich nur relevant ist, wenn es wirklich Rudolf Haglund war, der Cecilia Linde das Leben nahm. Da draußen gibt es weit mehr verwirrte und gefährliche Menschen als nur ihn.«
46
Line fuhr zunächst an der überwucherten Einfahrt vorbei. Dann wendete sie auf der asphaltierten Straße, fuhr zurück und hielt den Wagen an der mit Matsch bedeckten Abbiegung an. Die Autoscheinwerfer beleuchteten einen alten, rostigen Postkasten an einem Telefonmast. Der dunkelgrüne Lack war weitgehend abgeblättert.
Sie stieg aus dem Wagen und schaute auf die Klappe. Auf einer weißen Platte waren die Namen Ingvald und Anne Marie Ravneberg eingraviert. Gleich darunter schien irgendwann einmal ein Zettel mit einem weiteren Namen geklebt zu haben. Jonas, dachte Line. Dies war sein Elternhaus.
Line setzte sich wieder hinter das Lenkrad und fuhr in die Einfahrt hinein. Der Wagen wurde auf beiden Seiten von dichter Vegetation eingehüllt. Plötzlich bemerkte sie Reifenspuren auf dem aufgeweichten Weg. Möglicherweise war in Zusammenhang mit dem Mord in Fredrikstad ein Streifenwagen hier gewesen, doch Line zweifelte daran. Sie hatte keine Lust, jemandem zu begegnen. Deshalb rollte sie zurück auf die Straße und stellte den Wagen an einer kleinen Ausbuchtung ab. Ausgehend von der Landkarte, die sie sich angesehen hatte, schätzte sie, dass die Entfernung bis zu dem kleinen Hof am Fluss ungefähr sechs- oder siebenhundert Meter betrug. Im Kofferraum des Wagens hatte sie ein Paar Stiefel. Sie zog sie an und nahm ihre Kamera aus der Tasche. Die Lichtempfindlichkeit der Kameraoptik ging bis zu einem Wert von 25 600 ISO und machte es möglich, auch in fast völliger Dunkelheit zu fotografieren.
Der Wald hatte den kleinen Weg fast vollständig zurückerobert. Die Äste über Line bildeten eine Art Tunnel. Sie waren kahl und ragten schattenhaft in den vom Mond erhellten Himmel.
Lines Schritte machten jedes Mal ein glucksendes Geräusch, wenn sie mit den Stiefeln durch eine Pfütze lief. Irgendwo hinter den Bäumen links vor ihr toste der Fluss, der nach vielen Tagen mit heftigem Regen offenbar stark angeschwollen war.
Lines Augen brauchten eine Weile, um sich der Dunkelheit anzupassen. Am Himmel prangten zahlreiche blass wirkende Sterne, und trotz fehlender künstlicher Lichtquellen gewöhnte sie sich schnell an die unscharfen Konturen, die ihr den Weg wiesen.
Das Terrain flachte sanft ab. Drüben auf der Landstraße konnte sie das eine oder andere Auto vorbeifahren hören, doch je weiter sie sich wegbewegte, desto stiller wurde es. Und dunkler. Der Weg wurde noch schmaler und Line fragte sich, ob sie vielleicht besser umkehren und bei Tageslicht zurückkommen sollte. Plötzlich entdeckte sie einen schwachen Lichtschein zwischen den Bäumen. Sie folgte der nächsten Biegung und entdeckte die kleine Häuseransammlung vor sich. An einer Hausecke hing eine nackte Glühbirne, die ein gelbgraues Licht auf den Weg und Teile des Hofes warf.
Line lief weiter, blieb dann stehen und versuchte, sich zu orientieren.
Das Wohnhaus war rot gestrichen, mit weißen Verblendungen und Rahmen, und besaß kleine Fenster. Die Dunkelheit verschluckte alles, was an ein Idyll hätte erinnern können. Es war ein sterbendes Haus, das von Fäulnis befallen war.
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