Jagdopfer
sehen - das war ein himmelweiter Unterschied. Otes plötzliches Auftauchen hatte sie alle ganz schön ins Schleudern gebracht. Joe war klar, dass auch Marybeth jetzt darüber nachdachte. Ihr kleines Familienidyll hatte schweren Schaden genommen. Otes Blut würde noch monatelang auf dem Betonweg zu sehen sein. Und aus ihren Erinnerungen war es nie mehr zu tilgen. Mit welcher chemischen Keule könnte er das Blut wohl vom Beton entfernen? Und wie würde Lucy mit diesem Tag umgehen?
Würde sie vorsichtiger und misstrauischer werden? Und Sheridan? Würde sie jetzt zweifeln, ob ihre Eltern - vor allem ihr Dad - sie überhaupt vor Schaden bewahren konnten? Joe hatte entdeckt, dass Vater-Töchter-Beziehungen bemerkenswert stark waren. Seine Mädchen verließen sich darauf, dass er Großes leistete. Sie erwarteten das ganz selbstverständlich, weil er ihr Dad war - und darum ein bedeutender Mann. Joe war klar, dass er irgendwann etwas tun würde, das nicht großartig war. Und dass seine Töchter es erfahren würden. Das war unvermeidlich. Wie alt wäre Sheridan wohl, wenn sein Ruhm bei ihr verblasste? Wie alt Lucy, wenn sich das wiederholte? Und wie schmerzlich wäre diese Erkenntnis für sie alle?
Joe Pickett hatte zwei Leidenschaften - seine Familie und seine Arbeit. Er hatte alles getan, beide getrennt zu halten, aber heute Morgen hatte Ote Keeley sie zusammengezwungen. Joe sah Arbeit und Familie jetzt mit anderen Augen, und das tat weh. Marybeth hatte sich nie wirklich darüber beklagt, wie sich ihr Leben seit der Heirat mit Joe entwickelt hatte. Ihre enttäuschte Erwartung zeigte sich in unwillkürlichen Seufzern und manchmal hoffnungslosen Mienen, die sie wahrscheinlich selbst nicht als solche erkannte - anders als Joe. Marybeth hatte gute Aussichten gehabt, Karriere zu machen. Sie war eine intelligente und attraktive Frau. Aber dadurch, dass sie Joe während des Studiums geheiratet, Kinder bekommen und mit ihm durch ganz Wyoming von einer Bruchbude in die nächste gezogen war, hatte ihr Leben sich anders entwickelt, als sie oder ihre ehrgeizige Mutter es sich vorgestellt hatten. Marybeth verdiente einen gewissen Lebensstandard oder wenigstens ein eigenes Haus, in dem sie dauerhaft blieben. Joe hatte ihr nichts
davon bieten können. Das zehrte ständig an ihm - wie tausend kleine Nadelstiche. Wenn sie mit alten Studienfreunden telefonierte, die weite Reisen machten, leitende Angestellte waren und ihre Kinder in teure Privatschulen schickten, war sie hinterher stets wochenlang niedergeschlagen, auch wenn sie das nie zugab. Obwohl Joe seine Arbeit liebte - schließlich war er ein Naturbursche im wörtlichen Sinn -, ging ihm das Schuldgefühl von heute Morgen noch immer nach. Schrecklich, dass sie sich noch nicht mal ein Motelzimmer in der Stadt leisten konnten. Das Hochgefühl in den Bergen schlug in diesem Augenblick in bohrende Reue und quälende Sorgen um. Die Überzeugung, dass seine Arbeit sinnvoll war und er sie gut machte, würde weder seine Töchter durchs Studium bringen noch seiner Frau erlauben, mal richtig in den Urlaub zu fahren.
Joe wälzte sich auf die andere Seite, um bequemer zu liegen. Er versuchte, an etwas anderes zu denken, doch es gelang ihm nicht. Was Marybeth wohl dächte, wenn sie ihn jetzt sehen könnte - auf Verbrecherjagd, die Hand am Revolver, neben ihm zwei schwer bewaffnete Männer? Ein Jugendtraum war Wirklichkeit geworden - die Guten jagten die Bösen. Unbestreitbar, dass die Aufregung ihn hellwach hielt. Es wäre schwer, Marybeth zu beschreiben, wie er sich gerade fühlte. Möglich, dass sie ihn nicht verstehen würde.
Marybeth, die Beschützerin seiner Karriere, hatte nie nachvollziehen können, was Joe in Vern sah (auch seine Sympathie für Wacey fehlte ihr völlig). Was mochte sie jetzt wohl darüber denken, dass Vern wieder in Saddlestring war? Joe versuchte, seine Verärgerung über ihn abzuschütteln. Vern war sehr anständig zu Joe gewesen und
hatte ihn für diesen Bezirk empfohlen. Es war nicht Verns Schuld, dass anscheinend jeder dachte, er sei - was die Maßstäbe an einen Jagdaufseher betraf - das himmelhohe Vorbild.
Viel zu viel zum Nachdenken, und keine Schlussfolgerungen in Sicht.
Joe stützte sich auf den Ellbogen und konnte im schwachen Sternenlicht erkennen, dass Hilfssheriff McLanahan in dringenden Geschäften in die Büsche ging. Der konnte auch nicht schlafen.
Während Joe in die kalt leuchtenden Sterne sah - es waren so viele, dass der Nachthimmel wie
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