Jagdopfer
sagte sie. »Kommen Sie rein.«
Joe setzte sich an den aus rohen Brettern gezimmerten Küchentisch, während Jeannie sich um ein Mädchen in Sheridans Alter kümmerte. Das dunkle Haus hatte vier Räume. Die Wände in Küche und Esszimmer waren mit Tierköpfen gepflastert. Hinterm Esszimmer lagen das Bad, ein Schlafzimmer und noch ein zweites, das mit Etagenbetten vollgestopft schien. Mein Haus ist doch schon klein, dachte Joe. Wie bringt es Familie Keeley wohl fertig, dass nicht ständig einer über den anderen stolpert?
April - das Mädchen mit dem gequält wirkenden Gesicht, das Joe bei der Beerdigung gesehen hatte - lag auf
der unteren Matratze eines Etagenbetts. Er konnte ein Durcheinander von Bettlaken und nasse dunkle Haare erkennen. Jeannie gab dem Mädchen etwas zu trinken. Sie solle sich ausruhen und still sein, bis der Mann wegginge. Das Mädchen nickte. Joe sah auch noch ein Kleinkind - schwer zu sagen, ob Junge oder Mädchen -, das im Zimmer auf dem Boden spielte. Es trug nur eine Wegwerfwindel und ein zerrissenes, schmutziges T-Shirt.
Jeannie kam wieder in die Küche und fragte Joe, ob er Kaffee wolle. Er lehnte ab. Jeannie schenkte sich eine Tasse ein, setzte sich, nahm die Zigarette aus dem Mund und tat sie in einen Aschenbecher.
»Ich kann nicht rauchen, weil ich schwanger bin, wie Sie ja sehen. Aber manchmal muss ich mir einfach eine Zeit lang eine in den Mund stecken. Das hilft.«
Jeannie redete weiter und erzählte Joe eine Menge Dinge, die er lieber nicht gewusst hätte. Zum Beispiel, dass Ote keine Versicherung gehabt habe, als er starb. Dass er jeden Cent, den sie verdienten, in Pferde gesteckt habe, in Waffen, in die Jagdausrüstung und den verdammten Wagen, mit dem er begraben worden sei. Dass der Fordhändler in Casper, bei dem er das Auto gekauft habe, sie nerve, weil Ote - wie sich herausstellte - die letzten drei Raten nicht bezahlt habe. Jetzt wollten die das Auto zurück - sei das nicht zum Schießen? Dass Ote sie geheiratet habe, als er als Soldat auf Heimaturlaub gewesen sei. Da sei sie in der vorletzten Klasse der Oberstufe gewesen. In der Hochzeitsnacht habe er ihr das erste Kind gemacht. Dreieinhalb Blagen sei das jetzt her. Dass Ote alles, was er beim Militär gespart habe, für diese Hütte in Wyoming und das Grundstück rundum ausgegeben habe, um seinen Traum zu verwirklichen -
zu töten und Ruhe vor den Leuten zu haben. Er habe ein Trapper und Waldläufer sein wollen und immer gesagt, er sei hundertachtzig Jahre zu spät auf die Welt gekommen. Ote habe Menschen gehasst, vor allem aber den Staat. Er habe an das Recht geglaubt, Waffen zu besitzen und zu tragen. Er habe ihr die ganze Zeit erzählt, er werde draufgehen, wenn das FBI ihn wegen der einen oder anderen Sache drankriege. Darum sei er immer bewaffnet gewesen. Darum habe er ihr beigebracht, wie man mit der Schrotflinte schießt, die sie neben der Haustür aufbewahrten. Darum habe er in seinen hohen Stiefeln immer eine geholsterte Kleinpistole getragen. Ote habe immer gedacht, sein Ausrüstergeschäft komme eines Tages groß raus. Er habe jedem seiner Kunden eine Jagdtrophäe garantiert, wenn sie ihm versprachen, niemandem zu erzählen, wann, wo und wie sie dazu gekommen seien. Er habe ein Wasserflugzeug kaufen und sein Geschäft nach Alaska ausweiten wollen, irgendwann mal. Seine Kinder habe er selbst unterrichten wollen, aber das habe sie nicht mitgemacht - die Kinder würden sie in den Wahnsinn treiben, wenn sie den ganzen Tag zu Hause wären. Außerdem müssten sie eines Tages Arbeit finden und selbstständig werden. Und Ote habe ja selber nicht genug gewusst, um irgendwem irgendwas beizubringen, außer wie man ein Wapiti ausweidet. Dass Ote mit niemandem lieber zu tun gehabt habe als mit Kyle Lensegrav und Calvin Mendes. Ein widerwärtiges Arschloch, das sei Ote gewesen. Er habe gedacht, er wisse alles, aber er sei im Grunde weißer Abschaum aus Mississippi im tiefsten Nordwyoming gewesen. Er habe ihr nichts hinterlassen, nicht mal den verdammten Wagen. Sie werde von Sozialhilfe leben müssen. Sie werde
auf Geld von dem Staat angewiesen sein, den er gehasst habe. Ob Ote sich da nicht im Grab umdrehen werde? Aber vielleicht gebe es ja eine Hinterbliebenenversicherung und Unterstützung vom Veteranenamt. Schließlich sei Ote ja Veteran gewesen. Dem müsse sie mal nachgehen. Aber das sei auch wieder Geld vom Staat, den er gehasst habe. Ote werde gar nicht mehr aufhören, im Grab zu rotieren. Wie ein Kreisel. Sie
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