Jagdopfer
werde das Haus und die Autos verkaufen und wegziehen müssen. Vielleicht werde sie die Kinder mitnehmen, vielleicht auch nicht. Da sei sie sich nicht sicher. Ihre Mutter in Mississippi könne ihr die Kleinen wohl eine Weile abnehmen, bis sie selbst zu Potte gekommen sei. Vielleicht ziehe sie nach Colorado? New Mexico? Arizona? Irgendwohin, wo es wärmer sei. Eine gute Kellnerin bekomme überall einen Job.
Joe hörte zu und beobachtete sie. Auf diesen Wasserfall war er so wenig vorbereitet wie auf ihren Auftritt mit der Schrotflinte. Sie würde immer weiterreden. Sie war über Otes Tod verbittert, möglicherweise genauso stark aber über das Leben, das er ihr beschert und nun hinterlassen hatte. Joe sah wohl, dass sie hübsch gewesen sein mochte, als Ote sie geheiratet hatte. Doch jetzt wirkten ihre Gesichtszüge herb, und ihre Lebenseinstellung schien hartherzig. Joe war überrascht, wie still die Kinder nebenan waren. Ob sie einfach schreckliche Angst vor ihr hatten? Und demnächst bekäme sie noch eins.
»Er starb hinter Ihrem Haus«, sagte sie jetzt mit blitzenden Augen. »Er hatte nicht mal den Anstand, in seinem eigenen Hof zu sterben. Das Arschloch. Ich musste seine Pferde verkaufen, um dieses Begräbnis zu bezahlen. Ich hatte ja keine Ahnung, was es kostet, einen Bagger zu mieten. Warum hab ich sein perfektes Begräbnis
bezahlt? Warum? Ich bin so was von dämlich. Für mich hätte er das nicht getan, wenn ich erschossen worden wäre. Ich wette, er hätte sich mit seinen Kumpels Kyle und Calvin besoffen und meinen Leichnam auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Wie bei den Indern.«
Joe fuhr sich übers Genick. Er schaute verstohlen auf seine Uhr. Sie redete jetzt seit einer Dreiviertelstunde ununterbrochen. Er musste bald los, wenn er pünktlich in Cheyenne sein wollte.
»Sind Sie das nicht, dem Ote die Waffe abgenommen hat?«, fragte sie plötzlich und grinste.
Joe bejahte.
»Mann, da war er stolz drauf! Einige Zeit hat er von nichts anderem geredet. Dann hat er begriffen, dass er womöglich seine Ausrüsterlizenz verliert, und ist ängstlich und depressiv geworden. Wenn Ote seine Lizenz verloren hätte, hätte er genauso gut tot sein können, müssen Sie wissen. Das hätte ihn umgebracht. Ich bin die Wände hochgegangen, weil er immer und immer wieder davon angefangen hat.«
Während sie sprach, sah Joe sie an, doch seine Aufmerksamkeit war von der Grabesstille im Kinderzimmer in Beschlag genommen. Er wollte wissen, was mit dem kleinen Mädchen im Bett nicht stimmte.
»Ote hat Sie gemocht«, sagte Jeannie. »Er hat sich ein Weilchen wegen dieser Waffengeschichte mächtig aufgespielt, und dann hat er kalte Füße bekommen. Er hat Sie für einen anständigen Kerl gehalten. Das hat er gesagt. Sie seien gerecht und geradeaus, nicht wie Vern Dunnegan.«
Joe fragte, was sie damit meine.
Sie zuckte die Achseln. »Ote hat mir nicht viel von
seinem Geschäft erzählt. Ich weiß nur, dass er einmal wirklich wütend war, weil Vern ihn bei irgendwas - beim Wildern, schätz ich - erwischt hat. Und Vern hat Ote dazu gezwungen, das mit ihm in Ordnung zu bringen.«
»Sie meinen Bestechung?«
»Irgendwas«, sagte Jeannie. »Vern zwang Ote zu irgendwas, aber ich hab keine Ahnung, wozu. Ich weiß nur, dass Ote darüber verdammt sauer war. Und wenn Ote wütend war, war es hier reichlich ungemütlich.«
Aber sie wusste nicht, was genau geschehen war.
»So läuft der Hase nun mal«, sagte sie schließlich, als habe sie vergessen, dass Joe Jagdaufseher war.
»Nicht unbedingt.«
Joe konnte ihr nicht mehr lange zuhören. Er stand auf und bat um ein Glas Wasser. Sie wies zur Spüle. Auf dem Weg dorthin hielt Joe kurz an der Kinderzimmertür an. April lag im Bett. Sie schien Fieber zu haben, und die Haare klebten ihr am Kopf, aber sie blickte ruhig und durchdringend. Am Boden drehte sich das Baby in der Windel zu ihm um - es war ein Junge mit großen dunklen Augen. Sein Gesicht wirkte seltsam - als erwarte er, dass Joe ins Zimmer kommen und ihn schlagen werde. Doch Joe konnte an den Kindern weder blaue Flecke noch andere Verletzungen erkennen.
Er drehte den Hahn auf. Trübes Wasser aus dem eigenen Brunnen lief ins Glas. Jeannie Keeley starrte ihn an. Joe wurde überhaupt nicht schlau aus ihr. Sie konnte im einen Moment schneidend kühl sein und im nächsten vollkommen überschwänglich plaudern. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie die Schrotflinte wieder aus dem Flur geholt und auf ihn gerichtet hätte. Dieses Haus
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