Jagdopfer
durch den Berg schlängelte. Aber vor allem interessierte sich Joe für das Quellgebiet des Crazy Woman Creeks. Dort weitete sich die Schlucht zu einem Becken, das gut drei Kilometer lang, fast fünf Kilometer breit und ringsum von steilen Felsen umgeben war. In der ganzen Gegend waren keine Wege, geschweige denn Straßen eingetragen, und man konnte von den Klippen her praktisch nicht in das Becken gelangen. Der einzige Zugang führte offenbar bachaufwärts durch die Schlucht.
Joe war dort noch nie gewesen. Als er im Twelve Sleep County gerade als Jagdaufseher angefangen hatte, hatte er Vern nach dem Becken gefragt, denn es sah auf der topographischen Karte so einzigartig aus. Vern hatte gesagt, er sei dort einmal und nie wieder gewesen, weil es so schwer zu erreichen sei. Jäger würden die Gegend meiden, denn obwohl sie abgelegen und vermutlich wildreich sei, sei sie doch ein Gelände, »aus dem man ein Wapiti nur mit Messer und Gabel rausbringen kann«.
Ote Keeley, Kyle Lensegrav und Calvin Mendes aber hatten hier oben viel Zeit damit verbracht, die Gegend auszukundschaften und Wapitis zu jagen. Joe wäre gar nicht überrascht, wenn sie das Bedürfnis gehabt hätten, rauszufinden, was bachaufwärts hinter der engen Schlucht lag. Sie hatten vermutlich die gleiche Karte benutzt wie er. Und auch sie hatten sehen können, dass das
Becken sehr wahrscheinlich die Heimat prächtiger Wapitis war, die selten oder nie gejagt wurden.
Joe sah auf und spähte in die Richtung, wo die Schlucht beginnen musste. Dorthin wollte er reiten.
26
»Warum willst du denn unbedingt wieder in die Bighorn Road, Sheridan?«, fragte Marybeth beim Abräumen des Frühstückstischs. Lucy war schon Richtung Fernseher verschwunden. Ihre heiße Liebe galt all den vielen Kanälen, die sich plötzlich über Satellit empfangen ließen.
Sheridan hatte lange und intensiv über eine glaubhafte Geschichte nachgedacht. Sie habe ihre Bücher aus der Schulbibliothek vergessen. Die seien Montag fällig. Klar - das war eine Lüge. Aber eine ziemlich gute, meinte sie.
»Können wir nicht morgen fahren?«, fragte Marybeth. »Dann ist Sonntag.«
»Ich muss die Bücher aber lesen.« Sheridan sah ihre Großmutter beistandsuchend an. »Ich muss eins davon im Unterricht vorstellen.«
Missy Vankueren lachte. Seit ihrem Einzug im Eagle Mountain Club war sie ständig gut gelaunt. »Sie klingt wie ich in meiner Schulzeit.«
»Ja«, sagte Marybeth und sah ihre Mutter missbilligend an. »Aber das klingt nicht nach Sheridan.«
Sie drehte sich wieder zu ihrer Tochter um.
»Sheridan, du weißt doch, dass man seine Hausaufgaben nicht auf den letzten Drücker macht.« Dann brachte sie das Geschirr in die Küche.
»Na ja, in letzter Zeit war ganz schön viel los«, meinte Sheridan und spielte damit auf den Umzug an. Das würde doch wohl ein wenig Schuldgefühl wecken. Ihre Mutter wusste schließlich, dass Sheridan das neue »Ferienhaus« (O-Ton Missy) nicht besonders mochte.
»Setz einfach deinen Charme ein, um dich in der Schule aus der Affäre zu ziehen«, sagte Missy und zwinkerte Sheridan zu. »Klimpere mit den Augen und denk dir eine gute Ausrede aus. So würd ich’s machen.« Dann lächelte sie.
Marybeth kam wieder ins Esszimmer.
»Was ist?«, fragte Sheridan. »Holen wir jetzt meine Bücher?« Hartnäckigkeit zahlte sich meistens aus.
»Mal sehen.« Marybeth sah sie streng an.
»Heißt das Ja?«
»Es heißt: Mal sehen. Und jetzt zisch ab. Du siehst aus, als könntest du eine Mütze Schlaf vertragen.«
»Mir geht’s gut.«
»Fühlst du dich wirklich gesund, Süße? Du siehst etwas blass aus.«
»Mir geht’s gut«, wiederholte Sheridan und sprang vom Stuhl.
»Der geht’s wunderbar«, sagte Missy mit einem wissenden Lächeln zu Marybeth.
Mann, dachte Sheridan - die liegt auch immer falsch.
Also Ja, überlegte Sheridan, als sie mit Lucy in eine Decke gekuschelt auf dem Sofa lag und die Zeichentrickserien anschaute, die am Samstagvormittag im Fernsehen liefen. Ein zweites »Mal sehen« bedeutete immer Ja.
Zwar hatte Sheridan gesagt, es gehe ihr gut, aber sie fühlte sich gar nicht wohl. Ausdruckslos starrte sie auf
den Bildschirm. Sie hatte kaum gefrühstückt und Bauchweh. Die letzte Nacht war die schlimmste. In dem ungewohnten Bett war ihr fast gewesen, als liege dieser Mann neben ihr - so nah schien er. Sie konnte fast seinen Atem riechen. Es war, als beobachtete er sie und wartete, bis sie etwas sagen oder tun würde, was sie nicht sollte.
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